Dorfbus auf Schlaglöchern
Vorbilder, aufgespürt in Arosa
«Grüüüüüüüezi Frau Brunold», sagte er, wenn vor dem Pflegeheim Surlej meine Mutter vorne bei ihm, dem Fahrer, in den Arosa-Bus stieg. «Ja so öpis!» blickte sie ungläubig zu ihm auf und lachte. «Ja, känned Si miich denn?!» – nach 65 Jahren Aroser Luft noch ihrem Züritütsch treu. «Ja, aber sicher, Frau Brunold, mier fahred doch scho rächt lang zämä Bus», versichert er in seinem Aargauerisch. Gegen zehn Jahre mussten das wohl sein. «Wiä söt iich da öpär wiä Si nid kännä.» Und er wartete, bis sie sicher sass, bevor er abfuhr. Ein andermal, an der Haltestelle Zentrum, erblickte er im Spiegel Gotta Betti, die mit ihren 94 Jahren im Bus stand. Keine Sterbensseele wäre auf die altertümliche Idee gekommen, ihr den Platz zu räumen. So griff er zum Mikrophon, und in einem Ton tiefer Enttäuschung fragte er in die Runde, ob ihr denn gar niemand seinen Platz anbieten möge. «Also gwüss nit!», setzte sie sich zur Wehr, «lönd Si doch d’Gescht sitza! Das Schtückli bis zum Bellevue chan i doch gwüss no schto.»
Ich glaube, es war mein Sohn, der mich vor zwei, drei Jahren erst richtig auf ihn aufmerksam machte. Für den vierjährigen Christian war er der Star im Dorf. Wann er endlich selber ans Steuer dürfe, wollte er wieder und wieder als erstes wissen. Umsonst schärfte ich ihm ein, dass das doch nicht ganz so einfach sei, und dabei fühlte ich Erinnerungen aus meinen 22 Jahren in Stadtzürcher Bussen aufsteigen.
Schon durch erste, noch flüchtige Erkundigungen hier im Ort gewannen diese durchaus gemischten Erfahrungen alsbald an Aroser Facetten und Nuancen. Anders als in der städtischen Anonymität geht es hier nicht bloss um Brems- und Gaspedale, über welche ein missgestimmter Fahrer seine Laune an stehende Fahrgäste weitergibt, auf dass sie sich gegenseitig besser auf die Füsse treten und am Edelstahl der Haltestangen Beulen holen dürfen, wenn sie nicht vor einem Rotlicht Purzelbäume schlagen sollen. Auf Arosas Strassen sind überdies Umgangsformen und Kommunikationstalent verlangt. Über unsere Buschauffeure, so erfuhr ich bald einmal, sei diesbezüglich schon einiger Verdruss und Schimpf den Bach hinuntergeflossen. Selbst von amtlicher Seite wie etwa vom Ressortchef Tourismus im Gemeindevorstand. An einem Ort, der mit Haut und Haaren vom Fremdenverkehr abhängt, müsste Freundlichkeit im Umgang mit Gästen zum elementaren Rüstzeug sämtlicher Berufe gehören. Auf dem Parkett des Fremdenortes ist bekanntlich selbst ein quengelnder Kunde König. Wer sich benehmen wollte wie in unseren Bussen die Fahrer, würde in jedem Hotel nicht erst morgen, sondern heute noch gefeuert, hörte ich. Tatsächlich? Aber sicher, bei unseren Fahrern herrsche fraglos Schulungsbedarf.
Sicher verstünden sie sich als Partner der Hoteliers, aber sie seien keine umgeschulten Liftboys, wirft unser liebster Buschauffeur ein. Fast nur gestandene Lastwagenfahrer kämen für den Job in Frage. Die technischen Anforderungen, denen Pfosis Fahrer im Schnee und auf dem Eis darunter zu genügen hätten, bürgten leider nicht für höchste Meisterschaft in einem Höflichkeitstournier. Und für sie wichtiger als der Verkehr im Bus ist der draussen auf der Strasse. An ihnen hätte uns demnach ein Alpenkolorit anderer Art zu erfreuen als das Hochglanzlächeln eines Gigi zwischen dahinschmelzenden Heidis.
Im gelungenen Fall, mag man sich also denken, gesellt sich zur Routine am Steuer eine Herzlichkeit aus echtem Schrot und Korn, im Ton vielleicht zuweilen etwas brummig. Ein rechtes Vorbild wie er kann seine Kollegen selbstverständlich nur verteidigen, und für seinen Geschmack werde ich ihm dabei kaum genug Beistand leisten können. Alltägliche Fälle seien es jedenfalls nicht, dass einem Fahrer im Zusammenstoss mit einem aufbegehrenden Passagier wieder einmal die strapazierten Nerven mitsamt der Kinderstube versagten. Auch ihm, der doch wie die fleischgewordene Langmut hinter seinem Steuer sitzt, sei das schon passiert. Der CEO von Arosa Tourismus entschuldigt sich für solche Pannen unverzüglich und schriftlich ebenso wortreich wie mündlich. Diese Arbeitsteilung scheint zu funktionieren. Höflichkeitstücken anderer Art lauern im Mangel an Distanz zu den Benützern im Rücken, von denen der eine oder andere doch hie und da eine Trennwand vermissen lässt. Wo sich alles duzt, ist es ein wenig wie in einem rollenden Stall.
Tatsächlich dauerte es mehrere Jahre, bis mir auffiel, dass mir von unserem liebsten Buschauffeur nicht einmal der Familienname bekannt war. Keiner der Fahrgäste konnte mir in dieser Frage weiterhelfen. «Ich heissä numä Müller», sagte Markus – sieh an, sein Taufname ist der eines Apostels! Dagegen aber, in meine Vorbildergalerie Aufnahme zu finden, wehrte er sich nach Kräften. Es sei ja vielleicht gut und recht, zu denen zu gehören, meinte er, «aber sobald das mit dem Vorbild einmal bekannt wird, ist damit aus und Schluss».