Ein Sohn arabischer Ohnmacht

Bin Ladens Terror ist nicht der Aufschrei der Geknechteten

Essay von Georg Brunold - 31. Oktober 2001

Wo auch immer ihr sein mögt, wird der Tod euch erreichen, und wäret ihr auch in hochgebauten Türmen." So sagt es der Koran (4,78), und den Vers murmelte man unter gewöhnlichen Umständen vielleicht auf die Mitteilung eines Freundes hin, ein Schwager sei gestorben. Wie auch immer wir uns vorsehen, befestigen oder versichern, gegen den Willen Gottes vermögen wir nichts. Weniger pietätvoll ausgedrückt: nichts zu machen. Bleiben wir einen Augenblick dabei: Unter gewöhnlichen Umständen bedeutete Dschihad für den Gläubigen ein Bemühen um den rechten Glauben - sowohl individuelle Selbstreinigung als auch kollektive Verteidigung des Islam gegen Einflüsse, fremde oder hausgemachte, die seine friedenstiftende Botschaft verfälschen und um ihre Wirkung bringen.

Aber die Umstände sind nicht mehr "gewöhnlich". Seine neue, aktuelle Bedeutung erhielt das Wort Dschihad im Ersten Weltkrieg, der Weichen für vieles stellte. Die Kolonialherren stachelten einige muslimische Führer Britisch-Indiens dazu auf, den Mittelmächten den Dschihad zu erklären. Diese erwirkten im Gegenzug bei der Hohen Pforte in Istanbul die Ausrufung eines Dschihad gegen die Alliierten. Die Tradition des zeitgenössischen, militanten Verständnisses von Dschihad war begründet - Frucht einer Inspiration Londons und der Replik aus Berlin. Im neuen "heiligen Krieg", gegen den - gleichsam naturgemäß - seinerzeit zum "heiligen Krieg" gerufen wurde, behielten die Alliierten die Oberhand, und im Vorderen Orient wurde der Einfluss des Okzidents bestimmend: Die imperiale Hinterlassenschaft der Osmanen kam unter europäische Verwaltung, zur Hauptsache mit britischem, im Falle Syriens und Libanons mit französischem Mandat. Kurz darauf schickten amerikanische Ölgesellschaften sich an, die arabische Halbinsel zu erobern - mit dem Hause Saud im Osten gegen die von den Briten favorisierten Haschemiten an der Rotmeerküste.

In Europa brauchen wir nicht eigens zu erwähnen, dass wir die politischen Gegebenheiten als Folge der beiden Weltkriege sehen. Andernorts verliert diese stillschweigende Voraussetzung ihre Selbstverständlichkeit. Der Zweite Weltkrieg berührte Asien im Westen nicht direkt, und die arabische Welt erreichte nur ein Ausläufer westlich von Sues, bei Alamein in Ägypten. Im Osten Asiens hinterließ das martialische Kaiserreich Japan mit seinem Impetus asiatischer, das heißt hausgemachter "Befreiung" gemischte Stimmungslagen. Für die Opfer - von Korea und China über Burma, Indochina, Malaysia und Indonesien bis zu den Philippinen - war die europäische Kolonialmacht nicht mehr der einzige moderne Feind.

Anders im Südwesten Asiens, wo die Achsenmächte nicht direkt in Erscheinung traten. Die Araber östlich von Sues kannten seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs - außer einander gegenseitig und sich selbst - nur einen Feind: die europäischen Kolonialmächte. Die Nazis auf der anderen Seite haben sich den Arabern als Verbündete angedient, und Männer wie etwa Anwar as-Sadat haben für sie gearbeitet. Man muss es aussprechen dürfen: Wenn es nach den Arabern ginge, hätten den Zweiten Weltkrieg besser das Deutsche Reich und seine Verbündeten gewonnen. Nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, weil Israel der deutschen Niederlage seine Existenz verdankt. Sondern weil der Ausgang des Kriegs die nachkoloniale westliche Vorherrschaft über die arabische Welt gefestigt hat. Natürlich steht Israel dafür, es ist der symbolische Stachel im Fleisch.

Doch das Kreuz der amerikanischen Hegemonie ist weder die Existenz des jüdischen Staates noch dessen Besetzung arabischer Erde in Cisjordanien, Gaza und auf dem Golan. Was man von Intellektuellen und Schriftstellern, weltlich orientierten Köpfen, in der arabischen Hauptstadt Kairo hört, unisono fast und soweit im Gleichklang mit den Muslimbrüdern ebenso wie mit linken Oppositionellen, ist der lapidare Befund, dass die USA - unter anderem dank Saddam Hussein - heute die gesamte arabische Welt dominieren. Bis zur Ostgrenze Pakistans, einer Islamistenschmiede seit den vierziger Jahren, haben sich die Vereinigten Staaten als Nachlassverwalter der europäischen Kolonialmächte bis heute durchgesetzt, wenn auch auf jeweils eigene Weise: Sie haben mit General Zia ul-Haq die Rote Armee aus Afghanistan vertrieben, mit Saddam Hussein den aus dem Ruder gelaufenen Iran Khomeinis in die Schranken gewiesen, mit den arabischen Partnern der großen Koalition von 1990/91 den Irak aus Kuwait vertrieben, von den saudischen Ölfeldern fern gehalten und - wenn auch nicht zulasten des Regimes, sondern der Bevölkerung - unter Quarantäne gestellt. Im Kalten Krieg war das noch ein wenig anders gewesen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte die Araber mit der einzigen Supermacht allein zurückgelassen.

Das tiefe Unbehagen an dem, was Araber bitter "Pax Americana" nennen, gilt zunächst den amerikafreundlichen arabischen Regimes, vielleicht nicht in erster Linie, weil es sich bei ihnen um Feinde von Demokratie, Freiheit und Entwicklung handelt. Diese Ambitionen stehen in der Region nicht allenthalben im Vordergrund. Umso entschiedener aber gilt das Unbehagen den einheimischen Vollstreckern westlicher Wirtschaftsinteressen, die die große Mehrheit der Araber um ihren Anteil am gottgegebenen Ölreichtum der Region betrügen. Ein Ersatz für die fehlende Legitimation suchen die Autokraten aus dem Einvernehmen mit auswärtigen Partnern zu gewinnen, was ihrer reaktionären Despotie den Anstrich von Fremdherrschaft gibt. Im Inneren haben sie als Verteidiger himmelschreiender Ungerechtigkeit längst jede Opposition eliminiert, mit Ausnahme jener, die sich in die Moschee zurückgezogen hat und dort giftige Früchte treiben kann. Wo sich gewaltbereite Fanatiker nicht ausschalten lassen, werden sie entweder mit der Geldspritze ruhig gestellt oder außer Landes geschafft oder beides.

Was Jerusalem, die "auf ewig Vereinte", und Palästina angeht, so herrscht - lassen wir Israel einmal beiseite - in der arabischen Welt ein eklatanter Mangel an Interesse, das Problem zu lösen, außer bei den Palästinensern selbst. Erstens: Wer mag die Palästinenser eigentlich? Von den Ländern, die 1967 und 1973 gegen Israel Krieg geführt haben, taten es Syrien und Jordanien aus eigenem Antrieb. Nur in Ägypten gibt es ein Gefühl, man sei für die Palästinenser in den Krieg gezogen, und dies mehrmals. Man erinnert sich ungern daran, und bis heute würde es kaum jemand wiederholen wollen. Eine entsprechende Erwartung wird als Anmaßung empfunden. Die Palästinenser ihrerseits wurden, kaum hatten sie ihre nationalen Ambitionen erst einmal artikuliert, in Jordanien niedergewalzt, in Syrien gleichgeschaltet, und ihrethalben versank Libanon für 15 Jahre im Krieg.

Zweitens: Wer sind sie eigentlich? Die Libyer, hört man in Kairo, wie viele sind es? Vier Millionen, fünf? So viel haben wir hier hinter dem Bahnhof in Shubra. Die 1,4 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten dagegen und die 2,5 Millionen Flüchtlinge, denen es von den 250 Millionen Arabern - mit Ausnahme der Ölscheichs - fast noch am besten geht? Sogar im libanesischen Flüchtlingslager geht es ihnen besser als dem arabischen "Bruder" in der Vorstadt Kairos. Das ist den Nachbarn nicht entgangen. Sie macht sich unbeliebt, diese selbstgerechte kleine Elite, die das Schicksal der arabischen Nation dem eigenen unterordnen will. Geht es um ihr bisschen Land? Was wäre das für ein Problem, falls überhaupt der Rede wert, wenn es dabei nur um die besetzen Gebiete und nicht um Israel ginge, diese jüdische Speerspitze der Vereinigten Staaten!

Und drittens: Was hätte man davon? Erhält Ägypten seine zwei bis zweieinhalb Milliarden Dollar jährlich für den Frieden oder für sein Wohlverhalten im ungelösten Konflikt? Saddam auf der anderen Seite hat für die Palästinenser und ihre Sache so viel übrig wie für die arabische Bevölkerung der iranischen Südprovinzen, die er bei seinem Überfall von 1980 zu befreien versprach und dann dem Erdboden gleichmachte. Oder für die eigenen Landsleute, die er zu Zehntausenden niedermachte. Die arabische Welt braucht die Palästinenser nicht, sie braucht nur den gemeinsamen Feind Israel, der es jedem Staatschef erlaubt, die arabischen Amtskollegen in standhaftem Patriotismus zu überbieten. Ohne Israel, diesen einzigen Anhaltspunkt arabischer Solidarität, wäre wenig übrig, auch keine Solidarität mit den Palästinensern.

Die Araber haben ein anderes Problem. Sie stehen vor der Entscheidung, mit wem sie gehen wollen: entweder mit Saddam Hussein, mit den extremen Islamisten und was an pathologischen Amerikahassern mehr ist oder mit dem radikal entmündigenden Kindergarten des sklerotischen, bigotten Hauses Saud, mit seinen Handlangerscharen vornehmlich aus Ägypten, und eben mit den Amerikanern. Kann diese Alternative jemals Frieden bringen? Durch endlose Demütigung? Man darf bei allem nicht ganz aus den Augen verlieren, dass Osama bin Laden, genauso wie vor zehn Jahren Saddam, den arabischen Massen verspricht, endlich in den Genuss ihres Reichtums zu kommen, der ihnen vorenthalten wird. Die Kraft, die sich den USA und ihren mittelöstlichen Verbündeten entgegengestellt hat, sind die arabischen Afghanistan-Freiwilligen, mit allen Veteranen wohl einige zehntausend Mann. Ihre extremistische Vorhut ist bin Ladens Netzwerk Al-Qaida.

Imperialistische Arroganz der westlich dominierten Weltwirtschaft ist eine Sache, eine andere ist die oft gehörte Legende vom arabischen Terrorismus als Antwort darauf. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy geht so weit, bin Laden als "dunklen Doppelgänger" und "brutalen Zwilling" des amerikanischen Präsidenten zu bezeichnen, die amerikanische Außenpolitik habe ein halbes Jahrhundert lang den ganzen Planeten verwüstet. Erinnerungen an das besiegte Hitlerdeutschland und den Stalinismus scheinen Frau Roy wenig zu sagen, und der Weltkrieg bestand für sie zur Hauptsache aus den Bomben von Hiroshima und Nagasaki.

Mehr zur Herkunft bin Ladens erfährt man aus dem Leserbrief eines Sudanesen mit Namen Hashem Hassan, der in der unabhängigen, in London erscheinenden arabischen Tageszeitung Al-Quds Al-Arabi abgedruckt war: "Wir müssen damit aufhören, ihn als Stiefsohn des amerikanischen und westlichen Hegemonismus darzustellen. Er ist der rechtmäßige Sohn arabisch-muslimischer Ohnmacht. Er ist unser leibliches Kind, das wir in unserer Starrheit aufgezogen haben - ob wir nun Panarabisten, Marxisten, Islamisten oder andere Personen mit Schulbildung sind. Wir haben unsere Heimat und unser Volk so weit zugrunde gerichtet, dass wir zur leichten Beute amerikanischer, israelischer und anderer fremder Interessen wurden. Unsere verlorenen Söhne zu verleugnen und zu versuchen, sie dem Westen auf die Türschwelle zu legen, heißt, uns um die Verantwortung zu drücken. Es wäre besser, wir würden zu unserer Vaterschaft stehen und den Fehler in der Erziehung, die wir ihnen angedeihen ließen, erkennen. Er besteht darin, aus unserer Gesellschaft, aus unseren Schulen und Medien Freiheit und Wissen auszuschließen und uns die Möglichkeit zu nehmen, aus Fehlern zu lernen." Solche Stimmen und diese Art von Geist sind es, an denen die arabische Welt so großen und fatalen Mangel leidet.

Die meisten der Hijacker des 11. September stammten aus bin Ladens und des Propheten Heimatland Saudi-Arabien. Das große, leere und umso fragilere Königreich mit dem Schwert auf der Fahne ist um diese dissidenten Söhne weiß Gott nicht zu beneiden. Hinzu kommen höchst ungemütliche Nachbarn: im Norden der Irak und im Süden Jemen, dessen Bevölkerung von vielleicht 18 Millionen den etwa 22 Millionen Saudis bald die Waage hält. Dieses gebirgige Land der Entbehrung und Erbitterung, in dessen moderner Geschichte sich genügend Anlass zur Revanche findet, ist vielleicht uns, nicht aber Saudi-Arabien fern und könnte eines Tages noch mit bösen Überraschungen aufwarten. Ganz ähnlich wie in Pakistan unterhalten Kreise islamischer Extremisten dort ihre Nachwuchsförderungsstätten.

Wenn Saudi-Arabien, das Land des arabischen Reichtums, nicht rechtzeitig die Chance erhält, endlich in Richtung Westen aufzubrechen, und das Herrscherhaus in Riad den Weg des iranischen Schah-Regimes nehmen sollte, haben wir uns auf einen grundlegend veränderten Mittleren Osten gefasst zu machen, in dem die arabische Halbinsel unter einem oder mehreren Regimen nach dem Zuschnitt des irakischen oder desjenigen der Taliban oder einer Kreuzung von beidem leben wird. Das ist bin Ladens Ziel genau wie dasjenige Saddams. Und in solcher Nachbarschaft könnte es unter anderem schwierig werden, Israel zu verteidigen.

Der Terror ist nicht der Aufschrei der Geknechteten. Man kann das Mittel mit den Ursachen der Ungerechtigkeit ebenso wenig erklären wie rechtfertigen. Aber nicht weniger beunruhigend als der Terror ist der Applaus, den er erntet. Zum Krieg, um im alten Stil zu reden, droht erst der Applaus zu führen, und Krieg könnte auch das Resultat des neuen "Krieges" gegen den Terrorismus sein, wenn er als Einziger geführt wird - an Stelle des "Krieges" gegen Armut und Unterentwicklung, gegen ethnischen und religiösen Hass, gegen Unterdrückung und Ausbeutung.