Wenn Grenzen zu Grenzen werden

Von Georg Brunold, Adua (WORLDMUSIC, © Tages-Anzeiger 28.10.2004)

Nein, sagt Solomon lächelnd, in Eritrea war er noch nie. Bloss in Asab, «in unserem Land». Solomon ist Äthiopier, ein Amhare aus Addis Abeba, seine Familie kommt aus Nordshoa, den Stammlanden Haile Selassies. In Asab war er nicht etwa, solange die eritreische Hafenstadt noch in äthiopischer Hand war. Es war 1994, ein gutes Jahr nach der Unabhängigkeit Eritreas, drei Jahre nach der Befreiung vom stalinistischen Joch Mengistus.

Für Angehörige des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) hatte er im Hafen von Asab Umzugsgut einzuführen. Ausgerüstet mit einer Auftragsbestätigung vom DAAD und seinem äthiopischen Pass, flog er nach Asab. Noch bevor er diesen der eritreischen Grenzpolizei vorlegen konnte, verlangte ein Sicherheitspolizist Solomons Identitätskarte der Kebele, seines Wohnkreises, zu sehen. Die unabhängigen Eritreer ging Solomons Kebele so viel an wie eine liechtensteinische Behörde.

Doch nein, im offiziell mit Äthiopien eng befreundeten Eritrea liess man Solomon in der Transithalle warten, bis seine Maschine vom Schwenker in die eritreische Hauptstadt Asmara zurück war und ihn wieder heim nach Addis Abeba brachte. Mit Identitätskarte flog er ein zweites Mal nach Asab, und spätestens seither war ihm klar, dass Asab zwar in Händen neuer, aber keiner wahren Herren war.

Auch 500 Kilometer nordwestlich von Asab, längs der Hauptverbindung zwischen den zwei Ländern, führte dieser Umgang bald dazu, dass Äthiopier spontan darauf verzichteten, das traditionsreiche Bier der Brauerei Melotti in Asmara zu trinken, geschweige denn den nicht weniger gerühmten Melotti-Cognac.

Hier in Adua sind sie nicht Amharen wie Solomon oder gar Muslime aus der ehemaligen Provinz Wollo, durch die die äthiopischen Lastwagen nach Asab fuhren. Sie gehören zum Volk Tigrays, sprechen wie die christlichen Eritreer Tigrinya, und sie verzichteten nun auch darauf, ihr Obst und Gemüse von den eritreischen Brüdern und Schwestern essen zu lassen. Bald passierten die Grenze in beiden Richtungen nur noch Güter, wenn die Autoritäten beider Staaten das in aller Form und Schriftlichkeit so wünschten.

Direkt südlich von Asab in Djibouti, obschon da Somali, Afrikas schwierigste Zeitgenossen, leben, liessen sich die alten Nachbarn nicht lange bitten, den Aussenhandel des Binnenstaates Äthiopien abzuwickeln. Eritrea, verfeindet auch mit dem Sudan im Norden und Westen, verlor jenseits der Südgrenze den einzigen Markt seiner Industrie. Der Hafen Asab, den keine befahrbare Strasse mit dem fernen Zentrum des Landes verbindet, versorgte wenig später mit Müh und Not sich selber.

Man muss 1991 Eritreas andere Hafenstadt Masawa gesehen haben, die einst nebst dem eigenen Land zu einem guten Teil Äthiopiens Norden versorgte: Bei der Befreiung war sie das Ruinenfeld des einzigen mechanisierten Kriegs, der jemals eine afrikanische Stadt heimgesucht hat, begleitet von einer sowjetisch gerüsteten Luftwaffe. Von Grosny zehn Jahre später unterschied Masawa die Bruthitze des Roten Meers, nicht aber die Erbitterung der Bevölkerung.

Wer kurz darauf nichts mehr verkaufen und darum auch nichts kaufen kann, entwickelt zusätzliche Aggressionen, und 1998 brach der eritreische Präsident Afwerki einen weiteren Krieg vom Zaun: vier Millionen Eritreer gegen siebzig Millionen Äthiopier! Bis heute weigert er sich, ihn zu beenden. War das nach dreissig Jahren Befreiungskrieg eine zukunftsweisende Option?

Gross ist an dem kleinen Grössenwahn der Preis, und derzeit dient ein Drittel aller Eritreer zwischen 18 und 55 Jahren, beiderlei Geschlechts, in der eritreischen Armee. Wie lange wird Eritreas Diaspora das bezahlen mögen?