Sehen und gesehen werden

Von Georg Brunold, Kampala (WORLDMUSIC, © Tages-Anzeiger 05.08.2004)

Vier Monate nach dem Antritt als Ihr Afrikakorrespondent in Nairobi bin ich noch immer mit der Anschaffung von Ausrüstungsgegenständen befasst. Kameras, um das Gesehene festzuhalten, habe ich allerlei, verdiente damit früher manchmal sogar Geld. Doch bis jetzt sind sie daheim geblieben, wo noch von meinen letzten Afrikajahren von 1991 bis 1995 Kisten voller Fotos auf Ausmistung warten.

Dafür kaufte ich in Zürich kürzlich, weil mir die sechsjährige Tochter meiner Ehefrau keine Ruhe liess, einen neuen Feldstecher, wohl um die Giraffen, die hier überall herumstehen, noch besser zu sehen. Sind sie nicht ohnedies unübersehbar hoch genug? Bei der Geburt, bei der die Mutter steht, fällt das Baby 2 Meter 30 in die Tiefe, und kommt es glücklich auf die Beine, misst es 1 Meter 80.

Wozu ein Fernglas sonst noch gut sein sollte, ist mir im Augenblick nicht mehr so recht klar, solange wir so selten in die Oper gehen. Von der Tierwelt nämlich abgesehen, kann zu viel sehen wollen rasch ungemütlich werden, und vor allem, wenn man nahe aufeinander sitzt, hat ein Fernrohr gerade noch gefehlt, ausser es geht vielleicht um Altertümer im ägyptischen Niltal. Als ich zum sechsten oder siebten Mal in Luxor war, wollte ich von einem Hügel hinab endlich selber diese Linien sehen, die den Tempel der Hatschepsut über den Nil hinweg mit den Anlagen von Karnak verbinden. Ohne besondere Absicht, ich hatte nichts anderes im Gepäck, trug ich ein Safari-Dress aus Kenya, und an Stelle der unvermeidlichen Kamera hing mir um den Hals ein Feldstecher.

Angsterfüllt, wie in solcher Lage immer, stieg ich aus der Fähre, und die 300 Touristenführer, bis dahin immer auf dem Sprung, mich unverzüglich aufzuessen, traten flugs zur Seite, um ein langes, wohl geordnetes Spalier zu bilden. Die vier Ältesten traten mir mit ausgestreckter Hand entgegen: «Guten Morgen, Doktor! Guten Morgen, Doktor! Guten Morgen, Doktor! Guten Morgen, Doktor!» Seit diesem Tag bin ich Wissenschaftler, Archäologe, glaube ich, und halte mich, wie Sie sehen, in längst vergangenen Zeiten auf.

Bis sich im denkwürdigen Jahr 1994 der Vorgänger auf meinem Posten von einem Uno-Hauptmann den Feldstecher auslieh. Da stand er in der Abenddämmerung von Kigali, Ruandas umkämpfter Hauptstadt, auf dem Balkon unseres geteilten Hotelzimmers im Méridien Umubano, was ungefähr so viel wie «Eintracht» oder «Zusammenhalt» heisst, und studierte die Stellungen des Feindes zwischen den Bananenstauden am Abhang gegenüber.

Aus irgendeinem mir bis heute unbekannten Grund hörte das der Uno-Hauptmann weiter drinnen im Hotel, und auf der Stelle kamen sie, ihn samt geliehenem Sehgerät vom Balkon wieder hineinzutragen. Fairerweise habe ich zu berichtigen, dass er auf eigenen Füssen hineinging. Sie hatten ihm erklärt, auch die dort drüben hätten einen Feldstecher genau wie diesen, und darin wiederum einen ebensolchen auf sie gerichtet zu erblicken, komme ihnen eventuell als eine etwas geckenhafte Posse vor.

Eine halbe Stunde zuvor schon, wir hatten den Speisesaal soeben verlassen, schossen sie einen kleinen Gruss unten durch die Fensterfront in die Decke. In der Etage über uns schlief der Korrespondent der BBC, der während Monaten in Kigali weilte, zwischen den zwei Betten auf dem Boden.