Arosa oder Der schönste Ortsname der Welt

Kindheitsidyll, Goldgräberdorf und Krisenort des schweizerischen Wintersporttourismus

Von Georg Brunold, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton 28.12.2006

Zur Adventszeit, wenn das Wäldlein für Menschen unbegehbar war, kamen durch den Schnee die Rehe hinters Haus herabgestakst. Die Ohren gespitzt und in der frühen Dunkelheit die Augen angeknipst, pickten sie die harten Brotbrocken auf, die meine beiden großen Schwestern und ich ihnen vom Küchenbalkon aus zuwarfen. Im Sommer wieder erinnerte nichts mehr an die winterliche Wildbahn, und ich war Herr im Wäldlein, dem Hangstück zwischen der Inneren Poststraße und der Sonnenbergstraße. Zumindest vom Hotel des Alpes bis hinter das Haus Weißhorn – und das war der Abschnitt, wo die Schätze ruhten. Zu Dutzenden sammelte ich die Fläschchen ein, ganze Wände in Kippers Dorfapotheke brachten nicht diese Artenvielfalt zusammen. Sie waren von Tannenreisig bedeckt, ältere darunter in der noch von der Schneeschmelze aufgeweichten Erde ganz versunken; es lohnte sich, den Waldboden umzugraben. Unter Felsbrocken unterhielt ich meine Depots und zog auf dem Pausenplatz meinen Handel auf, tauschte gegen Sahnetäfelchen und Kaugummis. Mein magisches Geschirr aus dem Wäldlein interessierte vor allem das schöne Geschlecht, und obschon vier Fünftel nichts als braune Underberg-Fläschchen waren, zauberte ich jederzeit eine Phiole aus dem Ärmel, wie sie niemand im Dorf zuvor zu Gesicht bekommen hatte.

Im Wäldlein hatte ich über zwei Punkte Gewißheit erlangt, und dies noch ehe ich diese miteinander in einen klaren Zusammenhang gebracht hatte. In diesem Boden fand sich erstens eine Außenwelt eingelagert, die nicht im Tal heimisch war und über deren Ursprünge sich im Dorf allein nicht befriedigend Aufschluß gewinnen ließ. Zweitens waren da diese Balkone, wie etwa die im Kurhaus Herwig direkt über dem Wäldlein oben, von denen dieses ganze pharmazeutische Leergut herrührte, ungezählte Fläschchengenerationen aus ebenso vielen Wintern. Was diese unabsehbaren Balkonfluchten anging, die streng ausgerichtet in vier-, fünf-, sechsgeschoßigen Fronten der Mittagssonne entgegenstarrten, wie die Logen einer ungeheuren Oper, so mußte es sich dabei um das Herzstück einer Einrichtung handeln, die von innen zu sehen mich kein bißchen lockte. Im Gegenteil, ich war vollauf zufrieden mit jeder vorläufig intakten Aussicht, keinen dieser Balkone jemals betreten zu müssen.

Von den zwölf Monaten des Aroser Jahres sind vier Monate kalt und acht Monate Winter. Wenigstens die Hälfte der letzteren verbrachte ich während zweier Jahre im Freien. Mein Vater hatte beim Schulrat einen Dispens vom Kindergarten erwirkt, und in der Aroser Skischule konnte deshalb meine Schulbildung schon im Alter von fünf auf Hochdeutsch und in anderen exotischen Sprachen beginnen. Beinahe war ich selber einer der Fremden, wußte jedenfalls mehr als die erwachsenen Einheimischen, die Jahr für Jahr vor Saisonauftakt ihr Geklön anstimmten über den nahenden Rummel, in dem das Dorf wieder sich selber aus den Augen verlöre und dabei, so kann man wohl nur denken, in den Fluten seiner Einkommensquelle um ein Haar unterginge.

Als hätte es jemals etwas anderes als Fremde gegeben in diesem Dorf. Wer und was überhaupt war hier einheimisch und was hätte das heißen mögen? Im Jahr 1885, als fünf Jahre vor der Straße der Telegraf Arosa erreichte und zu den ersten Pensionen schon zwei Hotels und das erste Kurhaus hinzugekommen waren, zählte man 54 Einwohner. Wohl rund ein Drittel davon stellte die Familie Schmid aus dem Weiler Malix an der Straße von Chur nach Lenzerheide. Gemeinde und Private zahlten dem Kanton 67 Franken oder 42 Euro Steuern, bei einem gemeinsamen Vermögen, das mit 42'200 Franken zu Buche stand. Im Haus Leinegga unterrichtete Lehrer Luzi Brunold ein einziges Schulkind, als mein Urgroßvater im selben Jahr seinen Wohnsitz von Peist zwölf Kilometer weiter unten im Tal nach Arosa hinauf verlegte und dort eine Schreinerwerkstatt eröffnete. Seine Frau war aus Fanas im Prättigau, seine erste Schwiegertochter und meine Großmutter ein Schwabamädle aus Heidenheim, die zweite Schwiegertochter und Großmutter von Arosas heutigem Baulöwen Jos Brunold bereits eine hochgesellschaftsfähige Dame aus Wien mit slawischem Namen. Eine einzige Familie gibt es, deren Ahnen schon vor 1800 in dem seit dem späten 13. Jahrhundert ganzjährig besiedelten Bauerndorf ansässig waren: die Inneraroser Hold.

Im schwindelerregenden Aufstieg zu einer der international führenden Winterdestinationen der Alpen hatte das Dorf nicht nur über sich, sondern rasch auch über den Kontinent und die alte Welt hinausgegriffen. Noch heute ist mir aus den Lautsprechern der Inneraroser Eisbahn jenes bestimmte Saxophon und das Schlagzeug von Roy Haynes in den Ohren: «Tico-Tico» und «Cucuracha». Das legendäre Album «Charlie Parker Plays South of the Border», 1951 in New York aufgenommen, war gerade fünf Jahre jung, und, sich zu mir herabbückend, flüsterte mir meine Großmutter aus Heidenheim ins Ohr: «Heersch d’Neger?»

Auf 1800 Meter über Meer, in einer von Europas höchstgelegenen Gemeinden, konnten gewiß auch sie nicht fehlen. Oder welch ein Zufall sollte das gewesen sein, daß die Inneraroser Bergkirche, das älteste Gebäude im Dorf, ausgerechnet im Jahr 1492 entstand, als Kolumbus in der Karibik Land sichtete. Und ein hochmusikalisches Pflaster war Arosa immer schon, nicht erst heute mit seiner Waldbühne, seiner Vielfalt an Sommerfestivals, deren Programm ein halbes Buch füllt, und seinen international stark frequentierten Meisterkurswochen. Auch für den Aroser Hotelierverein konnte es nur Amerika sein, als er 1912 die New Yorker Kapelle Wirz engagierte. Der Kurverein, den es in Arosa seit 1884 gab, also schon vor der Erschaffung der übrigen Welt, hatte sich anfänglich geweigert, die Kosten solcher überseeischer Abenteuer zu tragen. 1924 beschloß er, zehn Prozent der Kurtaxen für das Kurorchester abzuzweigen, das fünf Jahre zuvor zur festen Einrichtung geworden war. In der Bergkirche stand schon im frühen 18. Jahrhundert eine Orgel, auf der noch immer Weltgrößen wie Hannes Meyer Konzerte geben. Von unserer Aroser Musik überzeugten uns zudem Schallplatten und das Radio: nicht nur mit Meyers autoritativen Bach-Interpretationen, sondern auch mit Hits wie «Kriminal Tango» oder «Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt». Hazy Osterwald, dessen Sextett den ganzen Winter im Kulm Hotel spielte, wohnte im Nachbarhaus, seine Söhne gingen mit uns zur Schule.

Von der kurenden Langzeitkundschaft, deren auf die Tuberkulose spezialisierten Ärzte in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts die Aroser Fremdenindustrie ins Leben gerufen hatten, fehlt manchen meiner Klassenkameraden aus den sechziger Jahren jede Spur einer Erinnerung. Über deren Zukunft im überbordenden Rummel des Wintersporttourismus hatten führende Vertreter der Heilstättengemeinde spätestens ab Mitte der zwanziger Jahre lautstark ihre Befürchtungen geäußert, kaum hatte Thomas Mann im Waldsanatorium aus seinem 1924 erschienen Roman «Der Zauberberg» gelesen. In den zehn Jahren von 1949 bis 1959 war die Zahl der Logiernächte von Kuraufenthaltern auf die Hälfte und ihr Anteil an der Gesamtzahl von einem Drittel auf ein Sechstel gesunken. Bis 1971/72 halbierte sie sich noch einmal, und kaum ein Gast hätte damals ohne Nachdenken sagen können, wieso ein Ort wie Arosa ein Kurort genannt wurde. Wissen mochte man das beim Kurverein, der noch bis 1996 die Kurtaxe einzog, und im Kursaal, der bis heute der Kursaal geblieben ist. Mir allerdings hatte meine Großmutter oft genug mit dem Kinderheim des Fräulein Schäppi gedroht, wo es zum Frühstück nur saure Milch gebe und ich am Nachmittag unter schweren Wolldecken stilliegen müßte, wenn ich jetzt nicht brav meinen Apfel aufäße, den ich, da sie ihn geschält hatte, nicht mehr mochte.

1930 wurden an zehn Privatschulen insgesamt 1300 Kinder unterrichtet. Schon 1917 bis 1927 hatte Arosa eine deutsche Schule für Externe. Die Kinder in den Internatsschulen und Heimen hatten noch im statistischen Jahr 1966/67 bei einem Total von rund 800’000 Logiernächten einen Anteil von über 50'000. Nimmt man an, daß sie im Schnitt weniger als die Hälfte des Jahrs blieben, übertrafen sie an Zahl immer noch die einheimischen Schulkinder. Fünf Jahre später waren weniger als die Hälfte übrig. Wir Dorfkinder bekamen von ihnen nicht viel zu sehen. Ihre Spaziergänge an der gesunden Luft absolvierten sie während unserer Schulstunden, und nur wenn ich etwa nach einer Grippe noch einen Tag daheim bleiben mußte und drei Stockwerke tiefer im Haus meine Großmutter besuchte, schauten wir aus der verglasten Veranda auf den Gehsteig gegenüber, wo Hand in Hand die Viererkolonnen ins Dorf hinabzogen. Mir kamen sie vor, als wären sie alle grad eben krank gewesen wie ich und zum erstenmal wieder draußen. Sonst war von ihnen nichts zu hören, und wenn das Dorf im Mai vollständig ausgestorben war und Samstag mittag auch der Baulärm ausblieb, stand für mich fest, daß die Ruhe über den Dächern aus der Tiefe der Balkone am Sonnenberg oben geflossen kam.

Was im übrigen die Insassen der Heilstätten anging und die Distanz, die wir Einheimischen zu ihnen zu wahren hatten, so waren die sieben Sinne meiner Großmutter stets hellwach. Noch den letzten von Arosas «Lungenkranken», wie sie sie nannte, identifizierte sie sofort und von weitem, wenn wir uns dem Garten des Parkhotels oder dem Strandbadpavillon näherten, wo das Kurorchester an warmen Sommernachmittagen zum Konzert aufspielte.

Aber weder unsere Hotellerie und Gastronomie noch die wiederkehrenden olympischen Medaillen unserer Skisportler und die ungezählten Schweizer Meistertitel unserer mittlerweile gealterten Eishockeyaner, nicht einmal unser musikalisches Leben hätte uns davon überzeugen können, daß wir Erben von 54 Bergbauern etwas zu bieten hatten. Das konnten einzig die Gäste und was sie mitbrachten. 1894 kam Sir Arthur Conan Doyle, Erfinder von Sherlock Holmes, 1896 das Telefon, 1897 die zentrale Stromversorgung und Straßenbeleuchtung, 1902 der Maronimann, 1905 die Buchhandlung Junginger, 1912 der deutsche Kaiser Wilhelm II., 1914 die Eisenbahn. Mit dieser elektrischen Adhäsionsbahn, die ohne Zahnradantrieb die höchstmögliche Steigung meistert und nach dem Langwieser Bahnhof über Europas höchsten Eisenbetonviadukt, der ersten Konstruktion seiner Art, die Talseite wechselt, kamen 1917 zum erstenmal Dr. Albert Einstein, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin, im selben Jahr Dr. Konrad Adenauer, Justizrat aus Köln, und 1921 Charlie Chaplin zu seinem Auftritt im Kursaal. Die Kantonsstraße durch das Schanfigg, das Tal von Chur nach Arosa, wurde erst 1927 für das Auto freigegeben.

Seitdem kamen viele, mit Namen wie Ribbentrop, Flick, Krupp, Riefenstahl, Nehru, Emir bin Faysal, auch der belgische König Albert I., Sophia Loren, Hermann Hesse und Paul McCartney. Das Personal, das dieser Kundschaft gewachsen war, darf nur bewundert werden. Die Wohnbevölkerung hatte um 1900 die Tausendergrenze überschritten, sich also binnen fünfzehn Jahren verzwanzigfacht. Ihren Höchststand erreichte sie 1930 mit 3724 Einwohnern, ehe sie 1941 auf 1920 zurückging, um in der Folge wieder gegen 3000 anzusteigen. Seit 1990 sank sie von 2700 auf 2480. Die Zahl der Schulkinder hatte in der Nachkriegszeit 1979 mit 330 ihre Spitze erreicht. Letztes Jahr waren 173 übrig, wenig mehr als die Hälfte.

Arosa jedoch, wir wissen es schon, sind seine Gäste, und die Frage, wer diese heute sind und sein sollten, verspricht an Dringlichkeit nur zuzunehmen. Der Wintersporttourismus ist keine Wachstumsbranche. An leicht erreichbaren exotischen Stränden wird ihm das Wasser abgegraben, obschon anders als auf Bali in den Nightclubs von Arosa und Davos noch keine Bomben gezündet worden sind. Dazu kommt die Konkurrenz im billigeren Österreich und neuerdings die der Slowakei, Polens usw., womöglich bald auch Kabardino-Balkariens im russischen Nordkaukasus. Die arrogante Unfreundlichkeit der Schweizer Gastgeber, längst ein Thema auch der Schweizer Medien, wird dadurch nicht besser, daß sie keine Aroser Spezialität ist, sondern im ganzen Land notorisch (und unter Gästen, die von fern herreisen, ihre Spitzenwerte bereits an Bord von Swiss Airlines erklimmt). Obendrein verteuert sich das Angebot dadurch, daß die Pisten selbst im als «garantiert schneesicher» angepriesenen Skigebiet Arosas seit den frühen neunziger Jahren wegen der globalen Erwärmung mit wachsendem Aufwand künstlich beschneit werden müssen.

Die Zahl der Logiernächte, die seit 1971/72 mit der einzigen Ausnahme von 1978/79 immer über einer Million lag, erreichte 1993/94 ihren Höhepunkt von 1,1 Millionen. Im folgenden Jahr brach sie um gegen zwanzig Prozent ein und hat in den Jahren seither die Millionengrenze nicht mehr überschritten. Die Käuferschaft des «Produkts Arosa», wie man sich in den Büros von Arosa Tourismus, des ehemaligen Kurvereins, ausdrückt, war auch nach dem Ende des Kurbetriebs nicht kurzerhand mit der Winterkundschaft der Aroser Bergbahnen gleichzusetzen. Was von ihr erhalten bleibt, wird noch einige Zeit altern und dabei ihre Ansprüche fortschreitend diversifizieren. So ist denn auf der Anbieterseite nicht davon auszugehen, daß die Neigungen des Publikums sich automatisch der Mentalität der Belegschaft anbequemen. «Wir leben in einer Zeit der Kassensturzmentalität», sagt Hans-Kaspar Schwarzenbach, Direktor von Arosa Tourismus. «Kassensturz» ist der Titel der beliebtesten konsumentenkritischen Sendung des Deutschweizer Fernsehens, und was die besagte Geisteshaltung kennzeichnet, ist laut Schwarzenbach die Losung «Geiz ist geil!». Die Gefahr solcher Diagnosen liegt in ihrer Tendenz, nur allzu leicht für ihre Selbstbewahrheitung zu sorgen. Ist die Kundschaft erst einmal als die der Migros Zürich-Oerlikon identifiziert, dann droht sie bald einmal sich selber ganz so vorzukommen und zu fühlen.

Corinne Denzler, Spa-Direktorin der Tschuggen-Gruppe, hat im Grandhotel, wo die Nacht ab 550 Euro kostet, andere Sorgen. Da die bei Schneegestöber ins Dorf hinabsteigenden Gäste vor den Aroser Schaufenstern ratlos bleiben, wurden vergangenen Winter Hubschrauberausflüge nach St. Moritz organisiert (was die Ausflügler allerdings wieder einen Tag blauen Himmel kostet). Werner Baltisser derweil, dessen Weinkeller im Grottino mit 350'000 Euro dramatisch unterversichert ist, klagt nicht über fehlende Abnehmer, auch wenn diese die Flasche Château Petrus 1995 zu 1000 Euro vielleicht nicht bei ihm in der Pizzeria trinken.

Bei der heutigen Konkurrenz in den Schweizer Alpen sind 60 präparierte Pistenkilometer wenig. Ein Link zwischen den Skigebieten Arosas und der Lenzerheide, von dem nicht nur Lorenzo Schmid als Verwaltungsratspräsident der Aroser Bergbahnen träumt, würde daraus 220 Kilometer machen. Aber selbst falls der alte Streit um dieses Projekt dank fortschrittlichen, landschaftschirurgisch weniger aggressiven Ideen demnächst vielleicht doch zu schlichten ist, ändert sich nichts daran, daß im Ferienpark Arosa zwischen den von überhandnehmenden Snowboardern und Carvern verunsicherten Pisten dringend eine verbreiterte Themenvielfalt ausfindig zu machen ist. Ein zeitgemäßes Angebot heißt Wellness oder Spa – für lateinisch sanus per aquam, gesund durch Wasser. Im Augenblick gerade erweitert der Hotels sammelnde Milliardär Karl-Heinz Kipp sein Tschuggen Grandhotel um die «Bergoase», ein vom Architekten Mario Botta gestaltetes Wellness-Zentrum, das höchsten Ansprüchen zu genügen hat. Kosten: 20 Millionen Euro für die Spa-Anlage, 10 Millionen für Auffrischungen am Hotel und weitere 3 oder 4 Millionen für den Coaster, die hoteleigene Standseilbahn, welche die Anlage direkt mit dem Skigebiet verbindet.

Ein weniger leicht zu fassendes Angebot hieße Kultur. Auf der geführten Tour vom Heimatmuseum zur alten Bergkirche referiert an diesem Spätsommerfreitag die Konservatorin Ruth Licht vor mindestens drei Dutzend Zuhörern über die Entstehung des Baus nach Beginn von Arosas hoher Hüttenzeit. Finanziert wurde er wohl vor allem von den Bergleuten, die ab Mitte des 15. Jahrhunderts zunächst im Dienst von Tiroler, später dann von Bergeller Unternehmern bis ins frühe 17. Jahrhundert aus den Minen am Rothorn, an Arosas markantem zweigegipfelten Wappenberg Erzhorn, am Tschirpen und auch mitten im heutigen Dorf am Hubel Silber, Gold, Mangan und vor allem Eisenerz förderten.

Wie es die Kultur vielerorts an sich hat, führt die Prospektion auch auf Aroser Boden unweigerlich in die Vergangenheit. Stat rosa pristina nomine, von der einstigen Rose bleibt immerhin der schönste aller Namen, dessen Ursprung im Dunkeln liegt. Von seinen überlieferten Varianten Arrossa, Arasen, Erosen hat vielleicht Orossen den betörendsten Nachhall. Arosa hat es bestimmt nicht aus eigener, aber doch mit beachtlicher eigener Kraft zu etwas gebracht, und wenn ihre Vergangenheit der Gemeinde eher eine Nummer zu groß ist, so bleibt ihr Selbstbewußtsein dennoch auf ihr Gedächtnis angewiesen. Dessen Pflege hat Hannes Danuser übernommen. In Arosa wissen wir alle, wer gemeint ist, wenn sein Name fällt. Im Aroser Schuldienst von 1950 bis 1988, war er wenn nicht unser aller Sekundarlehrer, so jedenfalls der der vierzig Jahrgänge von 1935 bis 1974. Seit 1997 erscheint seine Dorfchronik, deren bisher letzter, siebenter Band im Jahr 2003 anlangt, und spätestens im übernächsten Band können wir uns endlich auch über Arosas Zukunft lesend kundig machen. Hannes Danuser ist Hannes Danuser, und alles andere wäre eine fürchterliche Untertreibung.

Einstweilen müssen wir noch mit dem «Gemeinde-Entwicklungsleitbild 1996» Vorlieb nehmen. «Kein weiteres Wachstum», hieß der einvernehmliche Wahlspruch der rund sechzig aktiven Gemeindeangehörigen, die vor zehn Jahren in vier Arbeitsgruppen Arosas Zukunft in Planung nehmen wollten. Nach der Schubladenkarriere des vierzig Seiten starken Ergebnisses zu schließen, muß es sich dabei um eine Schönschreibeübung gehandelt haben. «Wir befriedigen nur eine Nachfrage», sagt Jos Brunold, Inhaber von Arosas führendem Baugeschäft. Diese Nachfrage setzte deutlichere Zeichen, und so kannte Arosas Bauwirtschaft vom Krieg bis heute keine Baisse. Auch zehn Jahre stagnierender Auslastung der beständig wachsenden Bettenzahl vermochten sie nicht zu bremsen. Mittlerweile kommen auf die 1050 Haushaltungen der niedergelassenen Bevölkerung mehr als 1700 Zweitwohnungen. Diese und der Handel mit ihnen bringen zwar der Gemeinde Steuereinnahmen, doch die Wertschöpfung dieser Betten, daran zweifelt niemand, bleibt hinter der der Hotelbetten zurück, und diese werden weniger. Der Zweitwohnungsbau verstrickt nebenbei alle Leistungsträger der Bauindustrie, Bauschreiner, Dachdecker, Sanitärinstallateure, Plattenleger, Gipser, in die Spekulation mit Wohneigentum, ob sie wollen oder nicht.

Ein Goldgräberdorf sei es, hat laut meinem Vater Architekt schon mein Großvater Architekt geseufzt. Und sein Eindruck sei es nicht, ergänzt dazu Hannes Danuser, daß in früheren Phasen von Arosas ebenso strittigem wie sprunghaftem Entwicklungsgang die Meilensteine Anlaß von weniger scharfen Kontroversen und Polemiken gewesen wären. Ob es um die Weißhornbahn ging, die Eissporthalle oder das kommunale Hallenbad, auf das Arosa heute noch wartet. Der «Tanz ums goldene Kalb», das in Danusers sieben schönen Büchern schon im ersten auftritt, nicht erst im zweiten wie bei Moses, muß in Arosa mit der Ankunft des ersten Kurgasts angefangen haben, und obschon das Schanfigg eine Sackgasse ist und von Arosa keine Straße weiterführt, wird er wohl kaum aus freien Stücken enden. Noch der schönste Talkessel behütet seine Unschuld nicht allein dadurch, daß er selber nicht wächst.

Für die Raumplanung wird es allerdings spürbar enger. Doch soll nun, da die Wachstumslogik schon mindestens die fünfte Spekulantengeneration am Werk sieht, ausgerechnet diese auf ihre Zukunft verzichten und sich mit den alternden streitbaren Idealisten zur Ruhe setzen, die übrigens ihrerseits ihr Heu längst im Trockenen wissen? Die Devise des gegenwärtigen Gemeinderates ist das nicht. In seiner letzten, nach Kräften um Spielraum bemühten Revision der Bauordnung hat der Gemeinderat statt dessen vieles wieder preisgegeben, was in den dreißig Jahren zuvor mühsam erstritten wurde. Das Stimmvolk hat ihm vor vier Jahren dafür seinen Segen erteilt, wie letztes Jahr auch einem Großprojekt, das den sinnigen Namen Prosa trägt: Mit einem weiteren 320 Betten starken Sap-Resort über dem Dorf beim Prätschli will die Arkona AG, ein Unternehmen der Deutschen Seereederei Gruppe, Arosa 90'000 Logiernächte und dem Ort, wo Stellenabbau an der Tagesordnung ist, außerdem 120 bis 150 feste Arbeitsplätze bringen. Wieviel das Dorf von einem solchen ausgelagerten Betrieb haben wird, ist heftig umstritten, heftiger noch die Umwandlung von 60'000 Quadratmetern Hochmoor in Bauland, die das Vorhaben erfordert.

So geht es in Arosa halt ein wenig, wie es unter Leuten geht, deren bange Ausschau nach überzeugenden Rezepten das Ersehnte nicht erbringt: Sie übertreffen einander als Experten im Land der Sündenböcke und wissen alsbald alle am besten, weshalb sich nichts vom Fleck bewegt oder aber höchstens in die grundverkehrte Richtung. Karl-Heinz Kipp will mit seinen Investitionen die Botschaft verbunden wissen, daß jedenfalls er an die Zukunft Arosas glaubt. Zugleich hält er es jedoch für wichtig, daß alle Aroser das tun! Ihre Güter sind laut Gemeindepräsident Vincenz Vital auf einen Gesamtwert von 1,2 Milliarden Euro versichert. Sollten sie sich in der Pflege ihres Besitzstandes überfordert sehen und Kipp enttäuschen, hat er hier ein tröstliches Wort des ritterlichen Argentiniers Jorge Luis Borges: Ein Gentleman kann sich nur einer verlorenen Sache annehmen.

Arosa und wie man es beschreibt Das Städtchen liegt im Kanton Graubünden auf einer Höhe von 1775 Metern, es hatte im Jahr 2005 genau 2272 Einwohner. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde es als Kurort für Lungenkranke entdeckt, damit begann sein Aufstieg zum Touristenziel. Hier wurde Georg Brunold 1953 geboren. Er war für die "Neue Zürcher Zeitung" lange als Afrika-Korrespondent tätig. Mit seinen Reisereportagen machte er sich in der Literarischen Welt einen Namen. Heute lebt er als Redakteur der Zeitschrift "du" in Zürich. Zuletzt erschien sein Buch "Ein Haus bauen. Besuche auf fünf Kontinenten" im Eichborn-Verlag.