Bollwerke der Vergangenheit schleifen

Von Georg Brunold, du, 01.07.1997

Nein, B-52 wird im ganzen Lande getrunken. Es handelt sich nicht um ein Kuriosum der Hotelbar im «Metropole Hanoi». B-52 – die prägnante Signatur des Langstreckenbombers der US Air Force wird noch öfter ins Auge springen, sie hebt diese besondere Mischung auf der Liste der Cocktails heraus. Es sind noch nicht zwei Stunden vergangen seit der Landung auf dem Noi Bai International Airport, dem Flughafen der vietnamesischen Hauptstadt. Die Vergangenheit hat sich unfehlbar eingefunden.

Sie ist im Metropole Hanoi, dem ehrwürdigen französischen Kolonialhotel, ohnehin nicht absent, überall auf der Welt ist sie gegenwärtig, auch in den Steinen und Baumstümpfen unbewohnter Gegenden. Aber in Vietnam ist die Vergangenheit, die selten lange ausbleiben kann, eine dem Land eigene und unverwechselbare. Bei einer ersten Begegnungen wie an dieser Hotelbar wird ihre Ankunft für einige Augenblicke hörbar im Raum nachhallen. Wer könnte sich der Wirkung des makaberen Scherzes ganz entziehen und um die Frage herumkommen, ob – in der konventionellen Bedeutung des Wortes – Humor am Werk ist und was für eine Art davon, wenn in Vietnam Langstreckenbomber selbst auf den Speise- und Getränkekarten ihre Spuren hinterlassen haben. Bereits jedenfalls hat man sich darauf eingestellt und gefaßt gemacht, daß die Vergangenheit hier mit Deformationen aufwartet, die den Blick zurück unfehlbar wieder auf einen und denselben Brennpunkt lenken werden.

Einstweilen bleibt keine Wahl bleiben, als sich einen Ruck zu geben, darüber hinwegzugehen und sich entschlossen die Gegenwart aufzutauchen. Die Menschen bewegen sich vorwärts, und erste Erkenntnisse über das hochmobile Vorankommen ihrer Gesellschaft, die sich noch vor den aus Vietnams Vergangenheit wiederkehrenden Langstreckenbombern eingestellt haben, werden präsent bleiben, sich vertiefend durch Stadt und Land, von der Ausfahrt des Flughafens Noi Bai während der ganzen Reise bis zum kambodschanischen Grenzposten, wo die Landstraße von Saigon nach Phnom Penh sich mit einem Schlag nahezu vollständig leeren wird: Vietnam ist ein Land, das von Heeren auf Zweirädern bewohnt wird. Die Stadt hat den Zufluß des Highway eingelassen, zerteilt und ihn in die Kanäle der Straßen gelenkt. Vom ersten Dämmerlicht in der Frühe, zur einen Hälfte bereits mechanisiert und die Luft verpestend, zur anderen Hälfte noch in einer Welt vor der Entwicklung des Motors, bis nach dem Einbruch der Dunkelheit abends: Unter leisem, beharrlichem, nie nachlassendem Gehupe rückt die Flut in der Hanoier Altstadt nach. Was ihre Verkehrswege bildet, sind nicht eigentlich die Straßen, es ist das Element dieser Ströme.

Nichts deutet darauf hin, das Bild scheint es im Gegenteil auszuschließen, daß in diese immerwährende Umwälzung äußere Einflüsse hineinwirken könnten. In den Kriegsromanen der Hanoier Schriftstellerin Duong Thu Huong und des ehemaligen Offiziers Bao Ninh liest man, wie vor dreißig oder vor fünfundzwanzig Jahren bestimmte Meldungen von der Front oder bestimmte Aufrufe an die Bevölkerung Hektik in den Straßenverkehr der Hauptstadt bringen konnten. Doch an Ort und Stelle wird klar, daß er selbst in solchen Fällen nur seinen eigenen Gesetzen gehorchen konnte. Zu beiden Seiten der Straßen ist die rollende Masse solide eingefaßt zwischen den langen Spalieren von Bäuerinnen unter dem vietnamesischen Wahrzeichen des Schulterjochs.

Vier Fünftel der siebzig Millionen Vietnamesen leben auf dem Land, in den weit hingestreckten, mehrere Weiler umfassenden Dörfern. Die vietnamesische Großstadt ist jung. So jung, wie sie ist, hat sie einen Großteil ihrer Erfahrung aus Quellen zu ziehen, die nicht innerhalb ihrer selbst liegen können. Ihr Gedächtnis muß weit vor ihre Geburt zurückreichen, und lange, während Jahrtausenden eingeübt sind ihre Bewegungen. Professor Vuong wird noch genauere Hinweise geben dazu und auch zu Vietnams langem Weg zur Gegenwart.

Taxiservice leistet der Cyclo, ein Dreirad mit zwei Rädern vorn unter dem Rollstuhl, worin der Fahrgast sitzt. Dahinter, die Hände auf der Rücklehne, die die Stelle der Lenkstange einnimmt, die Füße in den Pedalen, den Rücken gekrümmt, schwitzt auf dem Sattel der Cyclopousse. Vorne der Fahrgast fühlt sich eventuell etwas nackt, wenn einer der schwarzen Armeelastwagen auf der Kreuzung plötzlich die Richtung wechselt. Aber das legt sich, ganz zu Recht. Denn Hanoi ist zwar eine ausdauernde, aber eine gemächliche und gemütliche Stadt. In dem kleinen, acht Zimmer zählenden Hotel in der Altstadt zeigen über dem Ausgang fünf Uhren von links nach rechts die Zeit in London, New York, Hanoi, Hongkong und Sydney an, wobei die Uhr in der Mitte – Hanoi – zwanzig Minuten nachgeht. Von der städtebaulichen Zukunft, die vor der Tür stehen muß, hat sich noch fast nichts bemerkbar gemacht.

Doch draußen in den Gassen dieser wohl größten Trödelbude Asiens finden sich Vorboten, kosten zwischen dem künstlich gealterten Silber, den Büffelbeinwaren und Jadebuddhas die fernöstlichen Raub-CDs bloß noch zwei Dollar fünfzig – nicht nur Michael Jackson, sieh an, die Beatles mit Sgt Pepper’s und die Rolling Stones, aber auch schluchzende einheimische Volksmusik. Ob das wirklich wahr ist, wird der Fremde vielleicht nicht beim ersten Besuch entscheiden können, doch sicher wird er schon in den ersten Tagen sagen hören, daß die Vietnamesen im selben Maß wie heroisch auch pathetisch seien und sentimental. Vielleicht stand das in einem Zusammenhang damit, wenn manche von ihnen mit den Russen gern um die Wette tranken.

Professor Tran Quoc Vuong ist Kulturanthropologe und hat einen Lehrstuhl an der Universität von Hanoi. Es ist Samstag, und wir sitzen im Restaurant Dac Kim bei Nudelsuppe, Frühlingsrollen und in dünne Streifen geschnittenem Rindfleisch an Sauce citronelle. Die Sekretärin hat den Professor mit dem Motorrad auf der Hang Manh Straße in der Hanoier Altstadt abgesetzt. Zwischen dem grauen Jackett und dem geschlossenen weißen Hemd mit Krawatte trägt er eine Weste besonderer Art, ein einziges kunstvolles Flickwerk, genäht aus lauter Taschen unterschiedlichen Formats und von verschiedensten Formen, teils übereinander liegend oder untereinander verborgen, im Inneren der Taschen weitere Taschen, kleinste und noch kleinere Taschen.

Die Hand des Professors kehrt mit einem Bleistiftstummel aus dem Reich seiner Weste zurück und zeichnet in mein Notizbuch die Küstenlinie des südchinesischen Meeres: von Norden nach Süden zuerst den Golf von Tonkin mit der chinesischen Insel Hainan, dann den nach Osten gewölbten Bauch Indochinas mit seinem etwas zu weit nach unten geratenen Nabel in der Mündungsbucht des Saigon River, darunter das Mekong-Delta, das sich mit seiner scharfen Spitze nach Südwesten, in den Golf von Siam hinein, abwendet. 3200 Kilometer Küste, notiert er, und im Durchschnitt alle 30 Kilometer eine Flußmündung. Etwas über 330’000 Quadratkilometer mißt Vietnams Fläche, und auf jeden Quadratkilometer, so der Professor, kommt mehr als ein Kilometer Flußlauf. «Sie sehen, der Verkehr in Vietnam wickelt sich zur Hauptsache nicht auf dem Land ab. Die Leute bewegen sich auf dem Wasser fort.»

Vuong hat vom Nahverkehr des Bauernalltags gesprochen – und, so dämmert mir, wahrscheinlich auch von den rollenden Fluten in den Straßen Hanois. Doch auch im größeren Rahmen findet sich das Muster, das die klaren, einfachen Striche des Professors in meinem Notizbuch hervorheben, eindrücklich untermauert durch eine Zahl der offiziellen Transportstatistik, wonach im Frachtverkehr die Binnenwasserwege einen Anteil von rund vierzig Prozent belegen, gut doppelt soviel wie die Eisenbahn und fast ebensoviel wie die Straßen.

2500 Kilometer lang, wenig mehr als einhundert Kilometer breit: Wie seine Vergangenheit wird das Land auch seine besondere Gestalt noch öfter in Erinnerung rufen. Die Gebirgszüge, die parallel zur Küste den Westrand des dünnen Streifens von Schwemmland markieren, liegen zum größeren Teil bereits drüben in Laos. Dort oben, nahe der Grenze, hat Professor Vuong vorige Woche mit seinen Studenten Berggeister studiert. Davon gibt es zahlreiche, wie auch von Vietnams ethnischen Minderheiten, die es in ihrer Geschichte nie einfach hatten. Von den siebzig Millionen Vietnamesen stellen sie alle zusammen einen Anteil von zwölf oder dreizehn Prozent, und seinen fünfzig oder sechzig Bergvölkern zum Trotz liegt Vietnam so gut wie auf der ganzen Linie am Meer wie wohl kein anderes Land, wenn man einmal von den 13'677 Inseln Indonesiens absieht.

Die Hauptstadt ist Vietnams einzige größere Stadt ohne Hochseehafen, aber auch sie liegt auf Schwemmland, am Roten Fluß, und ihr Name Ha Noi bedeutet «zwischen den Wassern». Die Regenzeit ist eben zu Ende gegangen, und erst vor wenigen Tagen noch blieb der Nachtzug von Hanoi nach Süden vor Hue im Wasser stecken. Auch in der kommenden Woche würde es dort nur einmal, aber durchgehend regnen. In London regnet es 612 Millimeter im Jahr, in Saigon 1960 Millimeter, in Hue 3200 Millimeter, nahezu doppelt soviel wie am Kongoknie im Regenwald Afrikas. Die Fischschwärme ziehen über die Reisfelder landeinwärts, das Land selber schwimmt, und was sich davon an der Oberfläche zeigt, scheint sich ohne weiteres von der Stelle bewegen zu können.

Die Welt glänzt und leuchtet, und sie scheint dazu nicht einmal eine Sonne zu benötigen, von der in diesem Land zu keiner Jahreszeit viel zu sehen ist. In dieser Jahreszeit gleichen auch nördliche Küstenabschnitte der großartigen Welt des Mekong-Deltas. Dort können die Straßen, die sofort auf einen der vielfachen Arme des Mekong treffen, diesem nur folgen, wogegen doch der heutige Landverkehr nur eine Richtung kennt: quer durch das Delta, nach der angehenden Megacity Saigon. So haben die Ströme der Menschen und Waren auf zwei und mehr Rädern ausgreifende Haken zu schlagen, und in diesem langwierigen Zickzack der Straßen in Richtung Saigon sind die Transportmittel, von denen jedes Vorankommen abhängt, die ungezählten Flußfähren.

Aber nicht so sehr klimatischen Fragen als solchen und auch nicht Fragen des vietnamesischen Transportwesens gilt die Aufmerksamkeit in Professor Vuongs Ausführungen. Sie dienen als Einführung zu seinem kleinen Exkurs auf die Frage, was seine Landsleute, die Viet, für Menschen seien. Das Wort Indochina ist ein beliebter Ausgangspunkt für allerhand Erläuterungen die vietnamesische Identität betreffend. Das ist kein Wunder bei einem Namen, der – so lapidar wie klingend – zwei Giganten mehrtausendjähriger Hochkultur zusammenschließt und ihre vereinten Schätze auftürmt. Auch Professor Vuong läßt dieses Schlüsselwort fallen. «Schmelztiegel», fügt er prosaisch ein zweites hinzu und liefert damit nebenhin einen Teil der Erklärung, weshalb Vietnam das kulinarische Paradies auf Erden ist, was auch die vietnamesische Ethnologie mit einer Fülle von Nahrung versorgt. Das schwimmende Land seiner Skizze, eine Art Negativ einer Inselwelt, weist in eine dritte Richtung, welche die Bezeichnung Indochina unterschlägt. «Im Vietnamesischen finden sich 6000 Vokabeln melanesischen Ursprungs», sagt der Professor, und kühn entwirft er frühgeschichtliche Bilder von seinen Urahnen als Verwandten der pazifischen Hochseenomaden, die von der Küste Indochinas bis nach Australien fuhren und weiter.

Die Beschwörung maritimer Wurzeln gehört sonst mehr zu den Gepflogenheiten im Süden, und in Saigon wird Son Nam, ein alter Berufskollege Professor Vuongs, davon ein Beispiel geben. Im hohen Norden Hanois mag das mehr wie Stoff ferner Legenden anmuten. Doch der Gedanke an die Tragödie von Vietnams Boat People kann nicht ausbleiben. Von den späten siebziger bis in die frühen neunziger Jahre versuchten eineinhalb Millionen vietnamesische Flüchtlinge in untüchtigen, überladenen Fischerbooten ihr Glück auf hoher See. Von der ersten halben Million, zum Hauptteil in Südvietnam ansässige Hoa-Chinesen, die 1978 und 1979 aufbrachen, blieb rund ein Viertel verschollen.

Als politischer Begriff bedeutet Indochina das Gebiet der ehemaligen südostasiatischen Besitzungen Frankreichs. Die Kolonie Cochinchina von 1879, mit der Hauptstadt Saigon im Süden, wurde um die beiden Protektorate Annam mit der Hauptstadt Hue im Zentrum und Tonkin mit der Haupstadt Hanoi im Norden erweitert und 1887 mit Kambodscha zur Indochinesischen Union zusammengeschlossen, der sich sechs Jahre später auch Laos einverleibt fand. Indochina als geographischer Begriff dagegen schließt Burma, Malaysia und Thailand ein, bezeichnet die gesamte auch Hinterindien genannte Halbinsel östlich des Golfs von Bengalen. In diesem Indochina kam Vietnam auf die Indien abgewandte Seite zu liegen, wo das Land in einer Sonderstellung blieb, klar abgesetzt nicht nur gegen den Westen Südostasiens, sondern ebenfalls gegenüber den Nachbarn Kambodscha und Laos, desto näher dafür dem großen Nachbarn im Norden.

«Ihr springt und hüpft herum wie die Wilden; wir haben von Pferden gezogene Karossen. Ihr trinkt mit euren Nasen, wir haben Reis und Wein; laßt uns eure Sitten ändern. ... Wenn ihr sprecht, tönt ihr wie Vögel, wir haben Wissenschaft und Bücher; laßt uns euch Kenntnisse und richtige Gesetze beibringen. Wollt ihr aus dem Dasein der wilden Bewohner ferner Inseln herausfinden und euch das Haus der Zivilisation anschauen? Wollt ihr eure Umhänge aus Gras und Blättern ablegen und geblümte Gewänder tragen, bestickt mit Bergen und Drachen? Habt ihr verstanden?» Der chinesische Kaiser wird in seinem Brief deutlicher: «Macht keinen tödlichen Fehler! Wir rüsten Kriegswagen, Pferde und Soldaten. ... Unser Befehl wird lauten, eure Leichen zu zerschneiden, eure Knochen zu zermalmen und eure Heimat in ödes Grasland zurückzuverwandeln.»

Haben die Vietnamesen verstanden? Die Schriftstellerin Duong Thu Huong und Le Dat, einer von Vietnams hochverehrten Lyrikern, haben den Besucher gleich zu Beginn des Spaziergangs schon in ihre Mitte genommen, um ihn durch Hanois Zweiradströme zu manövrieren. «Wir schenken Ihnen Vertrauen», sagt Frau Huong, «aber nicht weil Sie stark sind», lacht sie. «Wir schenken Ihnen Vertrauen, weil Sie so schwach sind.» Das französische fort in ihrem liebenswürdigen Kompliment läßt sich ebensogut mit «mächtig» übersetzen, und was die Mächtigen oder wenigstens fremde Mächtige betrifft, so sind – das ist weltbekannt – die Vietnamesen störrisch wie die Esel. «Aber das ist nicht alles», sagt Le Dat, der Poet. «Ja, Vietnam ist eine bittere Pille für China, und dies deshalb, weil wir bei allen Lektionen in chinesischer Schurkerei und Betrügerei unsere Hausaufgaben immer so gründlich gemacht haben. Weil wir uns während tausend Jahren mit ihren Mittel gegen sie zu behaupten verstanden.»

So ließ der vietnamesische König Le Hoan sich durch den zitierten Brief nicht einschüchtern, und die Expeditionsarmee des chinesischen Kaisers zog sich eine schmähliche Niederlage zu. Das war im Jahr 981, 42 Jahre nachdem sich Vietnam des chinesischen Jochs zu entledigen vermocht hatte. Die Pille Vietnam mußte für China in der Tat bitter sein, denn es handelte sich nicht um einen erfolglosen Eroberungsversuch. Das Land der Viet war während mehr als einem Jahrtausend chinesisches Gebiet und der imperialen Kultur und Herrlichkeit teilhaftig gewesen.

Zu sechzig Prozent ist der Wortschatz der vietnamesischen Sprache chinesischer Herkunft, hat Professor Vuong gesagt, und man darf die Viet als das einzige chinesische Volk charakterisieren, daß sich der Eingliederung ins Reich widersetzt hat. Im 13. Jahrhundert wehrten die Viet sich unter Tran Hung Dao erfolgreich gegen drei Invasionen Kublai Khans und besiegten 1287 am Roten Fluß ein Mongolenheer von 300’000 Mann. Bei einem weiteren chinesischen Anlauf zur Rückgewinnung der verlorenen Südprovinz früh im 15. Jahrhundert gelang es in beinahe zehnjährigem Ringen nicht, den Widerstand zu brechen, den Le Loi in seiner Guerilla organisiert hatte. Auf der Insel im Hoan Kiem See in Hanoi steht ein Tempel, und darin ist ein Altar Buddha geweiht, ein zweiter einem Erd- und Wassergott und der dritte Tran Hung Dao. In jeder vietnamesischen Stadt ist eine der Hauptstraßen nach Le Loi benannt, und an der Le Loi-Straße, die in Hue dem Parfum-Fluß folgt, steht das Ho Chi Minh-Museum, das sich in jeder Stadt findet.

Es ist viel Vergangenheit gegenwärtig in Vietnam, nicht nur von jener besonderen Vergangenheit, an die der Drink bei der Ankunft im Metropole Hanoi erinnerte. «Die amerikanische Armee hat in diesem Land einen Krieg verloren, weil sie unsere Vergangenheit nicht kannte», das ist heute eine wenig umstrittene Schulbuchweisheit, die kaum zitiert zu werden bräuchte. Doch auch am Tag des Spaziergangs mit Le Dat und Duong Thu Huong ist der Satz ausgesprochen worden, zwar nicht von der Schriftstellerin oder vom Dichter, dafür aber von Oberst Huyn Van Trinh, dem Direktor für auswärtige Beziehungen bei der Kriegsveteranenvereinigung Vietnams. Noch im Gedächtnis der Lebenden ist Krieg in Vietnam nicht gleichbedeutend mit dem, was bei uns Vietnamkrieg heißt. Das Land befand sich im Zweiten Weltkrieg unter japanischer Besetzung, während der acht folgenden Jahre im Krieg gegen Frankreich, nach einer Pause von drei Jahren ab 1957 im Bürgerkrieg, der 1965 zum achtjährigen Krieg gegen die USA führte und nach dem amerikanischen Abzug von 1973 für weitere zwei Jahre fortdauerte, schließlich von Ende 1978 bis 1989 im Krieg gegen die Roten Khmer in Kambodscha und im Frühjahr 1979 das bisher letzte Mal im Krieg gegen China.

Der Preis der Unabhängigkeit muß besonders groß sein für einen Nachbarn Chinas, des Kolosses, der beides: die Weltrevolution und die Gegenwehr, den Stalinismus und das amerikanische Containment, nach Ostasien gebracht hat. Vietnam allein, ohne die Infektionsgefahr durch die Nachbarschaft Chinas, hätte noch keinen Dominostein abgegeben in der so berühmten und folgenreichen Domino-Theorie der späten fünfziger Jahre, deren Urheber Präsident Eisenhower war. Fiele Vietnam an den Kommunismus, so hieß es für die kommenden eineinhalb Jahrzehnte, dann risse oder – gemäß dem eingängigen Bild der Dominosteinen – stieße dies durch eine Kettenreaktion alle südostasiatischen Staaten bis hinunter nach Indonesien in denselben weltgeschichtlichen Abgrund.

«O weh», seufzen die Schriftstellerin Duong Thu Huong und der Dichter Le Dat im Chor, «noch so ein Besucher vom Mond. Nein», fährt Le Dat fort, «in unserem Land gibt es keinerlei Möglichkeit, ein Buch in eigener Initiative zu verlegen, es gibt keine privaten Druckereien.» Und wie fast jedesmal, nachdem er gesprochen hat, nicht nur wenn es um die Chinesen geht, schüttelt sich der Dichter vor Lachen. «In Europa haben sie den Kommunismus vergessen», fügt Frau Huong, an ihn gewandt, hinzu. In der Tat spricht ein Mann wie Ulrich Golaszinski aus einer bizarren Ferne, aus der Tiefe jener Zeit sozusagen, die nicht in Jahren, sondern in Epochen gemessen wird. Wenn er als ostdeutscher Vertreter einer Parteistiftung der heutigen Bundesrepublik das vietnamesische Verhältnis von Staat und Gesellschaft beschreibt, dann scheint in seinem Büro in Hanoi die DDR für einen Augenblick weiterleben zu können. Gewiß, ein autoritärer Staat ist in Ostasien nicht die Ausnahme, und man braucht in Indonesien, Malaysia oder Singapur keinen Leninismus, um Pluralismus und Demokratie zu disqualifizieren. Wenn jedoch Vietnam an der Parteidiktatur festhält, dann geschieht dies nicht bloß um der Ordnung willen und weil sich auf absehbare Fristen niemand eine gangbare Alternative auszumalen vermöchte. Es geschieht, weil der Sozialismus verwirklicht wird, wenn auch nicht in alter Manier mit dem Werkzeug der Planwirtschaft, sondern heutzutage mit den überlegenen Kräften des freien Marktes. Ulrich Golaszinski gibt sich überzeugt, daß alles auf dem besten Weg dahin sei.

Vielleicht erinnern wir uns aber an Osteuropa wenigstens soweit, daß man im Sozialismus die Schriftsteller und ihr Los nie vergessen sollte, und Vietnam ist, wie jeder Newsstand mit seinen Dutzenden von Zeitungen und Zeitschriften es demonstriert, ein Land passionierter Leser, wo auch der wartende Cyclopousse liest. Unter die Guerillakämpfer im Maquis wurden Postillen mit Nationalliteratur aus dem 17. Jahrhundert verteilt. Trotz des Sieges gegen die stärkste Militärmacht der Welt zählt Vietnam noch immer zu den zehn ärmsten Ländern der Welt, und rund die Hälfte der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, doch die Alphabetisierungsrate liegt nach Maßstäben der Dritten Welt in einsamen Höhen: bei über neunzig Prozent für die Altersklassen bis 45 Jahre und selbst für die über 65jährigen noch immer bei gut fünfzig Prozent.

Drei Romane von Duong Thu Huong sind in englischer, französischer und sogar deutscher Übersetzung zu lesen, aber in Vietnam ist kein Buch von ihr zu kaufen. 1991 war sie während sieben Monaten in Haft, ohne Gerichtsverfahren. Die Polizei hat sämtliche ihre Manuskripte beschlagnahmt. Le Dat, in den späten vierziger Jahren persönlicher Sekretär von Ho Chi Minh, wurde wenige Jahre später mit dem Bann belegt, «als Vietnams reaktionärster Dichter», prustet er fröhlich. Vor kurzem wurde er vom Schriftstellerverband rehabilitiert, als eines der Gründungsmitglieder und als «ein Frontmann von Vietnams lyrischer Avantgarde», prustet er weiter. Dabei habe er die ganze Zeit über immer das gleiche getan, von damals bis heute.

Täte sich demnach doch etwas am politischen Horizont? Dafür kann nicht die Hauptstadt allein maßgebend sein, dazu sind Stimmen im fernen Süden anzuhören. Ein klein wenig mehr Diskurs gibt es, wird in Saigon ein amerikanischer Vietnamologe sagen. Wenn eine internationale Kapazität wie der Australier David Marr sich zu einem Historikerkongress in Saigon einfindet, dann darf er dort neuerdings seine Ansicht äußern, wonach zwischen 1945 und 1954 in Vietnam keine Revolution stattgefunden habe. Es habe zwei Machtwechsel gegeben, bei deren erstem aufständische Bauern von den Franzosen zurück in die Wälder getrieben wurden, aus denen sie dann beim zweiten siegreich wieder herausgekommen seien. Doch von einer Revolution zu reden sei nicht gerechtfertigt.

Ein Vietnamese, der so spricht, oder einer, der statt von einem Befreiungskrieg etwa von einem vergangenen Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südvietnam redet, riskiert auch 1997 hohe Gefängnisstrafen. Son Nam, Professor Vuongs Berufskollege in Saigon, wird es bestätigen. Son Nam weiß wovon er spricht, er war aus solchen Gründen im Gefängnis. Seit zwei Jahren arbeitet der 71jährige Ethnologe als Reiseführer beim staatlichen Reisebüro «Saigon Tourist». Die Reiseführer stellen in der kulturellen Elite Vietnams eine wichtige und verhältnismäßig unabhängige Fraktion, nicht ganz unähnlich etwa den Taxifahrern in manchen afrikanischen Ländern: Während es beim afrikanischen Taxifahrer die professionelle Mobilität ist, die zu einem privilegierten Wissensstand verhilft, ist es beim vietnamesischen Fremdenführer der exklusive Umgang mit der Außenwelt.

Auch Diem Phung Thi kennt seine Motive. «Das Land braucht seine Künstler», sagt die Bildhauerin. Diem Phung Thi ist 1993 nach 45jährigem Exil in ihre Geburtsstadt Hue zurückgekehrt. Eine Stiftung hat für ihr Lebenswerk ein eigenes Museum eingerichtet, worin sie auch eine Schule für taubstumme Kinder unterhält. Diem Phung Thi hat in Frankreich, dem Land der Revolution, das metrische System weiter gedacht und sieben Bausteine entwickelt, durch deren Kombination sie alle zehntausend Dinge zwischen Himmel und Erde spielend hervorzuzaubern versteht. Im Medium der Kunst darf mehr Rationalismus und Aufklärung praktiziert werden als im Medium des Wortes.

«Presse- und Meinungsfreiheit gibt es nicht bei uns, ebensowenig das Versammlungs- und das Demonstrationsrecht.» So Ho Chi Minh, als er 1920 auf dem Kongress der französischen Sozialisten in Tours die Situation in Vietnam beschrieb und die französische Kolonialpolitik denunzierte. Doch seine Diagnose trifft die heutigen Zustände genauer als die damaligen. In den zwanziger Jahren gab es die Zeitung «L’Indochine enchaînée», herausgegeben von André Malraux, und dieser schrieb darin, an den französischen Gouverneur gerichtet: «Sie regieren Cochinchina einzig durch Angst, Geld und die Sicherheitskräfte. Und weil Sie wissen, daß ihre Methode sich allein auf die zwei Worte ‘Trinkgeld’ und ‘Denunziation’ verläßt, weil Sie den Haß zu spüren beginnen, der aus den entlegensten Reisfeldern Chochinchinas bis zu Ihnen vorgedrungen ist, deshalb drängt es Sie so sehr, sich zu rechtfertigen und zu beteuern, daß Sie tief im Grunde – im Grund Ihrer Tasche – Gefühle des Wohlwollens hegten, von denen aber noch nie jemand etwas zu spüren bekam, denn die angehäuften Piaster verbergen sie wie die Mauern das Innere einer Burg.» 1995, siebzig Jahre später, wurden zwei ehemals führende KP-Mitglieder wegen «Mißbrauchs der Freiheit und Demokratie zum Schaden der nationalen Sicherheit» zu Gefängnisstrafen verurteilt, nachdem sie sich für grundlegende Reformen und eine innere Demokratisierung der KP ausgesprochen hatten.

Amnesty International hat aus Vietnam dennoch verhältnismäßig wenig zu berichten. Anders als die demontierten osteuropäischen Vorbilder hat das sozialistische Parteiregime in Vietnam bis heute nicht eine Mehrheit der Bevölkerung gegen sich. Dissidenz findet wenig fruchtbaren Boden, und entsprechend wenig gibt es davon. Politisch hat die Regierung die Lage, wie man sagt, unter Kontrolle, und diese Lage ist für alle Teilnehmer weitgehend berechenbar. Bei einer wirksamen Dosis Repression ist wenig Willkür am Werk, der Tarif bekannt, und daraus ergibt sich eine Art totalitäres Pendant von Rechtssicherheit. Ähnlich verhält es sich mit der Korruption, die als Übel erkannt ist und mit drakonischen Strafen bekämpft wird. Der unliebsame Nebeneffekt dieser Behandlung der Korruption liegt – in Vietnam wie anderswo – darin, daß Schiebereien sich verteuern, je größer die damit verbundenen Gefahren sind.

Vielleicht haben die Vietnamesen auch die Korruption und die Repression aus China? Den Kommunismus haben sie nicht aus China, sondern aus Europa eingeführt. Aus China stammt jedoch eine Einrichtung mit starker Affinität zum totalen Staat Lenins: das Mandarinat, jene Hoch- oder Höchstkultur des Staatsbeamten, jenes letzte Telos des Kulturmenschen im Apparat. Im Apparat der Verwaltung, der – weit über den Wissenschaften – die höchste Kaste der humanen Gattung hervorbringt und reproduziert: die Kaste, die schreibt und vorschreibt. Dieser endgültigen Elite obliegt es, fortwährend immer mehr und gründlicher Ordnung zu schaffen und diese Ordnung in allen Bereichen der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. So ist der vietnamesische Staat weniger eine Einrichtung, wo ein Parlament effizient ein Investititonsgesetz verabschieden und die Richtlinien für den Aufbau einer modernen Finanz- und Steuerverwaltung vorgeben könnte. Er ist mehr eine Einrichtung, der die Anwärter auf das Nummernschild für ihr Motorrad über den ganzen Instanzenweg begleitet und, Schritt für Schritt, mit rund vierzig Stempeln betreut. Da er ganz dazu geschaffen ist, hat der Mandarin wenig außer seinem Amt, wofür er leben und was ihm ein Auskommen gewähren könnte.

Unter den vielgerühmten asiatischen Tigern ist Vietnam also gewiß als ein prominenter, doch einstweilen vornehmlich als ein Papiertiger vertreten. Vietnams stolzes Wirtschaftswachstum wiegt vorläufig gering, denn bei einem mittleren Einkommen von 180 bis 190 Dollar pro Jahr machen acht Prozent Zuwachs jährlich noch nicht sogleich eine Tigerökonomie. Die industrielle Basis ist schmal. Über Nahrungsmittel, Bekleidung, Schuhe und Baumaterialien hinaus produziert der drittgrößte Reisexporteur der Welt wenig selber, an Maschinerie nur Dreschmaschinen, Traktoren und ein paar Fernsehgeräte. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem mausarmen Land, wo sich die Situation – wie langsam auch immer – verbessert, und einem mausarmen Land, wo sich die Situation rapide und massiv weiter verschlechtert. Vietnam gehört zur ersten Kategorie, und überall im Land ist zu spüren, daß es Teil einer aufsteigenden und nicht einer absteigenden Region ist. Doch es wird in den kommenden Jahren die große Frage bleiben, ob der politische Archaismus dem Land und seiner Wirtschaft den Spielraum für die nötigen Anpassungen läßt, welche im Milieu des so rasanten ostasiatischen Aufschwungs und Wandels unabdingbar sein werden. Bereits ist Vietnam Mitglied der Welthandelsorganisation und dies in einer Ära, da noch jedes Privatunternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten gemäß Verordnung eine Parteizelle unterhält.

Aber ist Vietnam nicht doch immer aus sich und über sich hinausgegangen? Treibt diese umtriebigen Seelen nicht ein immerwährender Drang zum Aufbruch? Waren sich Professor Vuong und sein südlicher Berufskollege Son Nam nicht in diesem Punkt einig? Süden war stets die Marschrichtung der Viet, eines Volks mongolischen Ursprungs, das im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung aus dem Norden zugewandert war. Im 15. Jahrhundert noch reichte ihr Gebiet nur bis Danang. Ihr weiterer Vorstoß nach Süden ließ in der Folge von der indisch geprägten Hochkultur und dem Volk der Cham nur Relikte zurück, und unter den Laoten und Khmer, die während Jahrhunderten immer wieder zur Zielscheibe wurden, ist von der Geschichte der vietnamesischen Expansion nichts vergessen. Die historische Schmach, daß in Kambodscha die Khmer sich 1978 durch die vietnamesischen Invasoren von ihrem hausgemachten psychotischen Terrorregime Pol Pots befreien lassen mußten, hat das Verhältnis zwischen den beiden Völkern nicht entspannt. Süden hieß die Marschrichtung noch 1954, als nach der Niederlage Frankreichs eine runde Million nordvietnamesische Katholiken vor dem nördlichen Regime der Demokratischen Volksrepublik Ho Chi Minhs die Flucht ergriffen.

Auch heute blickt Vietnam nach Süden. Der freie Markt, den es im Norden nie gegeben hat, ist im Süden nur für ein Intermezzo von weniger als zwei Jahrzehnten durch den Planstaat ersetzt worden. Saigon, gewachsen auf eine Bevölkerung von fünf bis sechs Millionen, ist heute eine Riesenbaustelle, über der bereits ein Hauch des Hypermodernismus Hongkongs, Singapurs oder Kuala Lumpurs weht. Kein Mensch übrigens nennt die südliche Wirtschaftsmetropole noch Ho-Chi-Minh- Stadt, nicht einmal die Fahrpläne im Bahnhof von Hanoi. Die Region Saigon erwirtschaftet vierzig Prozent des vietnamesischen Sozialproduktes. Der Warenumschlag im Hafen stieg seit 1980 um das Achtfache, was einer Verdoppelung alle fünf Jahre entspricht. Le Van Thao, ein Sprecher der Hafenbehörde und Experte für internationale Beziehungen, erweckt gar nicht den Eindruck, ihm könnte dies große Sorgen bereiten. Die Sorgen, so räumt er lachend ein, beginnen erst außerhalb des Hafens, das heißt auf dem Land.

Dort sind die Wege noch immer weit. Schnell kommt man nicht voran auf den schmalen, zweispurigen Straßen, wo zwischen den Schlaglöchern zwei Wagen oft kaum aneinander vorbei finden. Lastwagen sind, besonders im Norden, weit zahlreicher als Personenwagen. Überall, an jeder Stelle der Nationalstraße N1, die ganzen 1760 Kilometer von Hanoi nach Saigon, sind Leute auf Fahrrädern und zu Fuß unterwegs. Auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad, der im Westen durch die Berge, teils über laotisches und im Süden über kambodschanisches Gebiet führte, dauerte die Reise drei bis vier Monate. Auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad haben Vietnams Volkshelden seinerzeit Radwanderungen über Gesamtdistanzen von einer Erdumrundung oder noch mehr zurückgelegt und dabei Dutzende von Tonnen Material über 1500 Kilometer verschoben. Angesichts seiner besonderen Gestalt bedurfte es in diesem Land einer außergewöhnlichen Förderung der Mobilität, um die Leute überhaupt erst miteinander bekannt zu machen. Der letzte, achtzehnjährige Krieg, der um der Wiedervereinigung der Vietnamesen in einem Staate willen zwei bis drei Millionen Menschenleben forderte, hat in dieser Hinsicht wohl bleibende Auswirkungen gehabt.

Die materiellen Früchte des Friedens im Lande, die Früchte dessen, was in Vietnam Befreiung genannt wird, ließen während der darauf folgenden zwei Jahrzehnte sehr zu wünschen übrig. Nicht weniger wichtig, vielleicht im Gegenteil um so wichtiger ist die Erfahrung des Kriegs als einem Reservoir der Hoffnungen geblieben. Weit über die Hälfte der Bevölkerung Vietnams ist nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte geboren, und doch hat das Gedächtnis des Kriegs in Vietnam heillos starke Stützen: Laut einer offiziellen Aufstellung gibt es in der Altersstufe von 35 bis 45 Jahren etwa doppelt so viele vietnamesische Frauen wie Männer, und die Zahl der Witwen im Land übersteigt die der Witwer um rund das Fünffache.

Und dann gibt es in Vietnam Gedenkstätten besonderer Art, wo ein Besucher aus dem christlichen Abendland sich auch vierundzwanzig Jahre später rasch vor Augen führen kann, was ein Krieg gegen dieses Volk – und dazu noch bei diesem Volk zu Hause – mit sich bringen mußte. Dazu genügt ein Besuch in der Unterwelt der Tunnel von Vinh Moc, nördlich von Quang Tri, an der Südgrenze des ehemaligen Nordvietnam. Die Tunnel sind einen Meter zwanzig breit und teils weniger als einen Meter siebzig hoch. Höchstenfalls zweieinhalb Quadratmeter messen die Nischen, in denen die Familien lebten. Steile Treppen verbinden die drei Ebenen der Anlage mit ihren drei Kilometern Tunnel und den zwölf getarnten Eingängen. Die B-52 Langstreckenbomber vermochten hier wenig Schaden anzurichten. Während Jahren lebten hier 2500 bis 3000 Menschen, gebaren Kinder und zogen sie auf.

In diesen nassen Stollen, wo das Hemd nach dreißig Metern von gelbem Lehm gestärkt ist, stellt sich eine Erinnerung ein an jene Schlüsselepisode aus Francis Ford Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now. Kurtz, der überdurchschnittlich talentierte und bewährte amerikanische Offizier, der im kambodschanischen Dschungel untergetaucht ist und sich dort in einem eigenen Schattenreich von Greuel und Gewaltritual eingerichtet hat, schildert kurz vor seinem gewaltsamen Tod eine Episode, die ihm die Augen für die Aussichtslosigkeit des amerikanischen Unterfangens geöffnet habe. Nach einem humanitären Einsatz in einem befriedeten Dorf, in dessen Verlauf unter seinem Kommando soeben die Kinder gegen die Kinderlähmung geimpft worden waren, wurde er mit seinen Männern von einem der Dorfbewohner zurückgerufen, um sich ansehen, was in der Folge geschehen war. Auf einem Haufen wurden die geimpften Arme verbrannt, welche die Dorfbewohner ihren Kindern abgehackt hatten.

Gegen ein Volk, das zu einer solchen Tat – in Kurtz’ Worten – die Kraft aufbringe, sei von keiner Macht dieser Welt ein Krieg zu gewinnen. Aber die Erfahrung, daß Menschen auch unter menschenunwürdigen Bedingungen zu überleben vermögen, daß für das Überleben kein Preis unbezahlbar ist, diese Erfahrung hat ihre Ambivalenz, und so gut wie ein unverwüstlicher Optimist darauf bauen kann, tut dies der Fatalist, dessen Auskunft lautet, irgendwie gehe es immer, und ohnehin komme, was kommen möge. Lauert darunter nicht die unabweisliche, obschon verdrängte Frage, ob der Preis am Ende vielleicht doch zu hoch gewesen sein könnte? Ein Preis zumal, dessen Höhe nach einem weiteren Vierteljahrhundert äußerster Armut noch immer niemand kennt, da niemand weiß noch wissen kann, wann er endlich zu Ende bezahlt sein wird?

Wenn die eigene Kraft im Frieden nicht mehr zuwege bringt als die vietnamesische seit dem Krieg, dann muß dies trotz allem eines Tages das Vertrauen in diese eigene Kraft relativieren, und außer dem Beweis des unüberbietbaren Durchhaltewillens, der jedoch schließlich nichts als durchhält, müßte die Erfahrung des Krieges noch anderes zu bieten haben. Das hat sie, und wenn der Krieg und der militärische Erfolg sich nicht in befriedigendem Maß in gesteigerte Lebensqualität ummünzen ließen, so wurde ohne Zweifel nicht nur der Beweis des vietnamesischen Organisationstalents erbracht, sondern zudem ein Beweis von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Diese Tugenden sind den Vietnamesen nach ihrem Sieg gegen die stärkste Militärmacht der Welt nicht mehr abzusprechen, und sie sind es, die Pessimismus nicht als obligatorisch erscheinen lassen. Landauf, landab sieht man Invalide noch immer in weit überdurchschnittlicher Zahl, und angesichts der entstellten Gliedmaßen oder auch Nasen fragt man sich in gewissen Fällen, ob die Lepra oder Napalm am Werk gewesen ist. Versehrte mehren die Fähigkeit einer Gesellschaft, zu improvisieren. Dazu kommt, daß in Vietnam Konfuzius einen stärkeren Einfluß hinterlassen hat als Buddha, und die Nation der Leser kennt auch das Buch Lun Yü, die Gespräche des Meisters: «Fehlen, ohne sich zu bessern, das nennt man Fehlen.»

Vietnamesen haben ihre Prinzipien und ihre Doktrinen. Sie gelten nicht nur als große Patrioten, Nahrung findet bei ihnen auch allerhand Xenophobie, selbst wenn sie sich nicht gegen kommunistische Chinesen wendet, sondern gegen südkoreanische, malaysische, taiwanesische Kapitalisten. Aber Vietnams Pragmatismus vermag selbst die Gesetze der Religion ein wenig zu beugen und zu mildern. Sogar im Marximus-Leninismus galt für Ho Chi Minh nie die Reinheit der Lehre als der höchste Gesichtspunkt. Die 70’000 muslimischen Cham, der kleine Splitter, der vom alten südlichen Reich Champa übrig ist, beten nur am Freitag, und im Fastenmonat Ramadan fasten sie am Anfang, in der Mitte und am Ende je einen Tag. Seit 1992 ist die Religionsfreiheit wieder in der Verfassung verankert, was allerdings Probleme aufwirft, wenn es zugleich keine legalen Vereinigungen geben kann. Denn entgegen der Auffassung des vietnamesischen Staates ist Religion nicht reine Privatsache, sondern definitionsgemäß Gemeinschaft. Die scharfe Konfrontation zwischen dem Staat und dem buddhistischen Klerus gehört zum kommunistischen Vietnam wie zum ehemaligen Südvietnam, und immer wieder befinden sich Buddhisten-Führer in Haft.

Doch daraus entsteht nicht der Eindruck, als beeinträchtige dies Vietnams vitale Religiosität. Das kommunistische Land, vor allem der maritime Süden, ist ein Garten der Sekten. Gegen zwei Millionen Vietnamesen glauben an den Gott Cao Dai, den «hohen Turm», der sich 1920 in Tay Ninh, nordwestlich von Saigon, dem Gründer Ngo Van Chieu mit fünf Geboten der Vernunft offenbart hat. Unter den Heiligen Cao Dais finden sich Moses, Jeanne d’Arc, Victor Hugo, Sun Yat Sen, Winston Churchill.

«Vietnams Religion ist der Polytheismus», hat Professor Vuong gesagt. Dem Synkretismus wird gemeinhin eher eine devitalisierende, die Kräfte einer Kultur zerstreuende und aufzehrende Wirkung nachgesagt. Die Stadt ist wehrlos, lautet die Diagnose in Afrika, denn dort haben sich die Stämme alle gemischt. Dem Volk der Viet dagegen muß der Synkretismus zu einmaliger Stärke verholfen haben, und offenbar kann er nur dem Leben selber abgeschaut sein, diesem einzigen wahren Gesamtkunstwerk Leben, wo man von allem nicht nur das Beste hat, das Beste deswegen aber unter dem vielen anderen doch wenigstens auch haben möchte, wo man jedenfalls keinen Gott entbehren mag, denn nicht die Vielfalt, sondern «die Hierarchie der Götter ist es», schreibt Pham Thi Hoai, «die den Verstand der Gläubigen verwirrt und ihnen ihre Unbefangenheit raubt.» Für Anhänger jeden Glaubens dieser Welt müssen sich in dem Devotionaliensortiment auf dem Markt der Hanoier Altstadt ganze Schwärme von Ketzereien tummeln, und die einheimische Schriftstellerin sieht mehr als ein Besucher aus dem Okzident. Neben dem Schwein und dem Huhn, der Schildkröte und dem Kranich, neben der Glocke, dem Rosenkranz und dem Taktholz, neben dem büffelhütenden Kind und dem in den Anblick einer Blume versunkenen Mädchen sind da die Mütter, die guten Geister, männliche Feen und chinesische Schriftzeichen wie «Glück», «langes Leben» und «Lohn des Himmels», papierene Goldbarren, Jenseitsgeld in vietnamesischer und amerikanischer Währung, Kleidung für die Zeremonie der Anrufung verstorbener Seelen und mit Sicherheit einiges mehr. Pham Thi Hoai hat in ihrer Erzählung Ein Held den Tempel, das vietnamesische Gotteshaus beschrieben. Gott ist darin in jeder Gestalt zugegen, «in der ganzen Vielfalt der Wünsche, die wir an ihn richten»: der «König des Dschungels, die heiligen Jungfrauen, die heiligen Jünglinge, die Hung-Könige, seine Exzellenz der Weiße Tiger, die Goldene Schildkröte, der legendäre Hahn, Präsident Ho ... in einem Durcheinander von Lampen, Räucherstäbchen, Glöckchen, Gongs, Truhen, Kästchen, Bettgestellen, Thronen, Schirmen, Ahnentafeln, Bannern, Fächern, seidenbebänderten flachen Hüten, Schwertern, Säbeln, Lanzen, Hellebarden, Klebreiskuchen, Bohnenmehlkuchen, Orangen ... Ganz wie in einem Supermarkt.» Die Versammlung der Götter und Geister erzeugt kollegial die dem Tempel eigene Aura, und in dem angestammten Kreis tanken einige Zuzüger davon ihre Dosis, ehe sie vielleicht in eine andere heilige Gesellschaft oder zu einem Gönner nach Hause verlegt werden.

Hanoi erinnert nicht an Moskau und Bukarest, ist kein städtebauliches Denkmal des Kommunismus, sondern höchstens seiner einschränkenden Auswirkungen auf die kreativen Kräfte einer rührigen Gesellschaft. So haben die Leute auf dem Grundriß ihrer zwei Zimmer in die Höhe gebaut: auf vierzig Quadratmetern fünf Stockwerke zwanzig Meter hoch in den Himmel und obendrauf in der Sonne den Garten mit dem Wochenendhäuschen. Soweit das Auge reicht, reiht die Stadtlandschaft dieser viereckigen Türme eine unverwechselbare Individualität an die andere. Hanoi liegt, man sieht es, im gleichen Land wie Hoi An, der ehrwürdigen Hafenstadt südlich von Danang im alten Annam – eine Stadt von Welt schon im Reiche Champa, irgendwo zwischen Malakka, Hongkong und Sansibar, im Verkehr mit Chinesen, Japanern, Indern, Thai, Malayen, Portugiesen, Holländern, Filipinos, Franzosen.

Wahrhaft heilig aber, um zu Vietnams Religiosität zurückzukehren, sind in Vietnam die Ahnen. Sie werden geehrt, und zum Neujahrsfest Tet werden zu Hause im Dorf ihre Gräber aufgesucht. Und in diesem Punkt stößt die Religionsfreiheit an Grenzen, und an dieselben Grenzen stößt die Verfassung, welche diese vermeintliche Freiheit einräumt und Religion zur Privatsache erklärt. Gegen die Rechte und Ansprüche der Ahnen kam in Vietnam auch der Kommunismus nicht an. Die Partei hat nach ihrem Griff zur Herrschaft über das ganze Land sehr rasch ein Einsehen gezeigt, und die kollektivistischen Abenteuer in der Landwirtschaft gehören Vietnams tieferer Vergangenheit an. In diesem Punkt braucht Son Nam, der Ethnologe in Saigon, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Kollektivierung im Feldbau ist gegen die Moral und gegen den bon sens. Vietnam hat unter der Partei gekämpft, aber doch nicht für sie, sondern für das Land. Es gab und gibt wichtigeres als sie, und unter anderem dies muß damit gemeint sein, wenn es von den Vietnamesen heißt, das sie große Patrioten sind. Die Heimat ist das Dorf. Dort ist im Reisfeld das Grab der Ahnen.

Phnom Penh, Weihnachten 1996