Rwanda fünf Jahre danach

Der angekündigte Mord an Hunderttausenden

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.04.1999

Vor fünf Jahren in Rwanda: 333 Morde pro Stunde oder fünf pro Minute, 2400 Stunden lang, pro Tag 8000, macht 800000, wenn die Zahl der Toten nicht doch einer Million näher kam... In einem Land von zwei Dritteln der Fläche der Schweiz, mit siebenMillionen Einwohnern. Es gab Überlebende: Auf den Feldbetten im Rotkreuz-Notspital sassen, am Kopf Schnittwunden und unter den Knien beide Beine abgetrennt, sechsjährige Mädchen, die man lebend unter verstümmelten Leichen hervor aus Abwasserkanälen gezogen hatte. Landsleute trieben zu Tausenden im Kagera dem Victoria-See entgegen.

Am 6. April vor fünf Jahren wurde sie vom rwandischen Staat in Gang gesetzt, die menschliche Höllenmaschinerie, die sieben oder acht von zehn Angehörigen der ethnischen Minderheit im Land umbrachte. Über den Zeitraum dieser hundert Tage erreichten jene Armee und ihre Milizen im Massentöten die höchste Effizienz in der Menschheitsgeschichte, und dies von Hand, mittels Macheten. Das Verbrechen war eine organisatorische Jahrhundertleistung, nicht denkbar ohne die französische Rüstungs- und Schulungshilfe, nicht denkbar ohne das entschiedene Abseitsstehen der USA und der übrigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der UNO, die Generalmajor Roméo Dallaire, dem Kommandanten ihrer 2500 Blauhelme in Rwanda, die erbetene Verstärkung der Friedenstruppe um dieselbe Zahl verweigerte, statt dessen ihre Kräfte auf etwas über 200 Mann reduzierte und ihr jede über Selbstverteidigung hinausgehende Aktion untersagte.

Die Zeichen waren lange zuvor klar erkannt und nicht nur von Diplomaten und Journalisten durchaus treffend gedeutet worden. Drei Monate vor ihrem Anbruch war die Apokalypse der UNO in Details ausgemalt worden. Nicht von Oppositionellen, sondern von einem Funktionär, der im Sicherheitsstab des rwandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana ein Spitzengehalt bezog. Er liess, als er Dallaire am 11.Januar 1994 die umfangreichen Vorbereitungen zum Genozid schilderte, keinen Zweifel, sprach von einer geplanten Provokation der UNO, die deren Abzug zum Ziel habe, als Voraussetzung der «Exterminierung» aller Angehörigen der Tutsi-Minderheit. Sein Personal, so der Funktionär, sei in der Lage, bis zu 1000 Tutsi binnen zwanzig Minuten zu töten. Die Namen designierter Opfer, die der Funktionär seit drei Jahren im Auftrag der Präsidentschaft auf Listen sammelte, wurden seit Monaten regelmässig im Radio verlesen. Er offerierte seine Hilfe zur Aushebung von Waffenverstecken der Milizen und bat im Gegenzug um Schutz für ihn und seine Familie. Dallaire, der Kofi Annan, damals Untergeneralsekretär für Peacekeeping Operations, unterstand, ersuchte beim New Yorker Hauptquartier – «mit höchster Dringlichkeit» – um Genehmigung dazu: «Peux ce que veux. Allons-y.»

Die Antwort war nein. Die ausgetauschten Depeschen gelangten knapp zwei Jahre später – Annan war noch nicht Generalsekretär – an die Öffentlichkeit. In der Anwort, die Annans Briefkopf trug und von einem Stellvertreter unterzeichnet war, hiess es, Dallaire solle seine Informationen dem amerikanischen, französischen und belgischen Botschafter zur Kenntnis bringen, wie auch dem rwandischen Präsidenten, und diesen darauf hinweisen, dass die Aktivitäten der Milizen die Vereinbarungen seiner Regierung mit der Opposition und mit der UNO-Friedensmission verletzten. Schon bald zwei Jahre zuvor war in der rwandischen Hauptstadt Kigali von jedem Oppositionspolitiker zu hören, worauf sein Informant auch Dallaire hinwies, dass nämlich der Präsident nur mehr Teile seines Apparates in der Hand habe. Mit dem Abschuss von Habyarimanas Flugzeug am 6.April begannen seine radikalen Parteigänger ihr Werk. Sie trafen auf Widerstand einzig seitens der Freischärler des Front patriotique rwandais (FPR), mit dem sie im Jahr zuvor ein international ausgehandeltes Friedensabkommen unterzeichnet hatten.

Während die Aussenwelt, namentlich das, was gemeinhin der Westen genannt wird, sich abgemeldet hatte, überliessen die Franzosen die in ihrer Botschaft beschäftigten Tutsi ihrem Schicksal und brachten einige der Hauptverantwortlichen des verbündeten Regimes in Sicherheit. Noch zwei Monate lieferten sie dessen massenmordenden Streitkräften Waffen und waren dann wieder zur Stelle, um ihnen den Abzug zu erleichtern, als sie mit ihren Milizen, geschlagen vom FPR, zwei Millionen ihnen ergebener Untertanen aus dem Land trieben, 800000 nach Tansania zuerst, später 1,2 Millionen nach Ostzaire. Dort herrschte dieser rwandische Rumpfstaat nun, im Bund mit Mobutu, über sein Restvolk – und bald auch über die angestammte Bevölkerung – wie einst Stalin über die Sowjetbürger und jenseits der Grenze über Slowaken und andere Slawen. Während eine Woche nach dem Ende der Kämpfe ein französischer Kardinal zu Besuch kam und sagte, die beiden Seiten sollten beten, bereuen und sich versöhnen, steinigten Habyarimanas Erbfolger in den eigenen Reihen Rückkehrwillige und gelobten den Gegnern, das begonnene Werk vom Exil aus zu Ende zu führen.

Auch diese flüchtigen Täter nannte die internationale Gemeinschaft «Flüchtlinge», fütterte sie mit insgesamt mehr als einer Milliarde Dollar, wohnte neuerlich ihrer Aufrüstung bei, die sie indirekt finanzierte, und wiederum war die einzige Kraft, die dagegen etwas unternahm, der FPR, inzwischen Rwandas neue reguläre Armee. Diese sah sich im Sommer 1996 schliesslich gezwungen, den exilierten Apparat Habyarimanas zu zerschlagen, und rollte bei dieser Operation zusammen mit verbündeten zairischen Rebellen Mobutus gesamtes Riesenreich auf. Vielleicht 85 Prozent der Geflüchteten kehrten 1996 aus Zaire und Tansania nach Rwanda zurück, und dort wird- zur Hauptsache von Elementen aus immer noch demselben Dunstkreis – bis heute weitergemordet, im Taktvon einigen Dutzenden, manchmal auch Hunderten pro Woche.

We wish to inform you that tomorrow we will be killed with our families ist der Titel des Buchs von Philip Gourevitch, der vom Frühjahr 1995 bis Sommer 1997 für den «New Yorker» aus Rwanda und dem Osten Zaires beziehungsweise Kongos berichtete und Rwandas jüngste Geschichte mit ihren Folgen bis über den Sturz Mobutus hinaus nachgezeichnet hat. Gourevitch fragt sich, was geschehen würde, wenn ein Faxschreiben wie der Hilferuf Dallaires heute im UNO-Hauptquartier einginge.

Die Regierung der Täter empfing während der hundert Tage des Genozids Pressebesuch, liess sich interviewen, noch in Kigali zuerst, dann – mit wachsender Bereitwilligkeit – in ihren Quartieren auf der Flucht nach Zaire. In ihren Kreisen war damals kein Versuch von Rechtfertigung zu hören, der nicht das Geschehen in der Optik von Psychopathen verzerrte, das Verhältnis von Tätern und Opfern ins Gegenteil verkehrte. Das Verbrechen, wie es weithin sichtbar zutage lag und das ganze Land mit seinem Geruch erfüllte, schloss Bekennerschaft aus.

Es dauerte fast vier Jahre, bis Madeleine Albright und Bill Clinton namens der USA ihr Bedauern äusserten und schwere Fehler einräumten. Doch das Bedauern und die Entschuldigungen bedeuten nicht, dass das Verbrechen und seine Begleitumstände seitdem offen ins Auge gefasst werden könnten. An seinem Hergang liegt zu wenig im Unklaren, als dass die Betrachtung sich in Interpretationsspielräume flüchten könnte. Die Zahl der Toten ist zu gross, und ein so ungeheuerliches Faktum, an dem es nichts zu deuteln gibt, kann nur beiseite geschoben werden. Das gilt nicht nur in Paris. So wird auch die Frage, von wem bei den angesprochenen Instanzen der Notruf Dallaires zur Kenntnis genommen wurde und ob jemand – und allenfalls wer – für die ausschlaggebenden Entscheidungen verantwortlich gewesen sein könnte, wohl unbeantwortet bleiben. Nicht nur trug Dallaires Warnung nichts zur Verhinderung des Völkermords bei – das unfassliche Grauen konnte die internationale Gemeinschaft weder während noch seitdem zu einer Politik bewegen, die vom Vorgefallenen Kenntnis nähme. Die Überlebenden auf der Seite der Opfer erhielten zu keinem Zeitpunkt bis heute auch nur einen Bruchteil der Hilfe, die den Tätern vor, während und noch für zwei Jahren nach ihrer Flucht über die Grenze gewährt wurde. Das Problem von Rwandas westlichen Partnern ist in diesem Fall nicht, dass sie zu gemeinschaftlichem Handeln unfähig sind, sondern dass ihr – gemeinschaftliches – Versagen zu schwerwiegend ist, als dass es eingestanden werden könnte.