Russisches Roulette

Lebensmüde Anmerkung: der gefährliche Rand der Dinge

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.06.2000

"Die russischen Offiziere verwendeten während der Revolution – wo hatte ich das nur gelesen – folgende Droge: in dem Augenblick, in dem der Finger auf den Abzug drückt, vertreibt der damit verbundene Adrenalinstoss die Langeweile."
Graham Greene in Conversations

Verlangte ihn, Graham Greene, den Protagonisten seiner Biografie, womöglich nach einem Touch des fiktiven, imaginierten Charakters seiner Romanhelden? Um mit ihnen auf ein wenig noch vertrauterem Fuss zu stehen? Etwas näher am «gefährlichen Rand der Dinge», von dem Greene recht gerne sprach. Wobei an diesem Rand die Dinge sich unweigerlich in untergründige (hie und da etwas ominöse) Kommunikation mit den letzten Dingen begeben. Leute, die ihre Laufbahn nicht dramatisieren mögen, behalten Selbstmordversuche eher für sich. Hatte er tatsächlich russisches Roulette gespielt? In grauer Vorzeit, legendentauglich, als Neunzehnjähriger, mit dem Revolver des älteren Bruders, und dies nicht nur einmal? Hatte er nicht irgendwann gesagt, er habe mit einer Kugel in der Sechsertrommel sechsmal abgedrückt?

Am Ende wäre Greene, dem Jahrhundertautor, der Verzicht auf die Episode vielleicht weniger schwer gefallen als der Verzicht darauf, festzuhalten, dass für ihn wenn, dann nur ein letztes Geheimnis mit diesem leicht vulgären Timbre in Frage kam? Eine Note von theologischem Funk, verwandt dem Nachtclubambiente jener Greeneschen Hölle, in der viele seiner Charaktere, seiner katholisch zur Sünde verpflichteten Glücksritter, in die ewige Verdammnis zusammenfinden. Oder nur die pflichtbewusste Selbsterniedrigung dessen, der sich lieber, als sich zu verleugnen, zu seinem Geckentum bekennt. Ein Mann eben?

Greene versäumte nie anzufügen, wenn die Rede von seinem Leben war, es sei wenig, was es an Gutem über ihn zu sagen gebe, und davon sei fast alles in seinen Büchern.

Von Pistolero-Brio abgesehen, hebt sich das russische Roulette deutlich ab von anderem Techtelmechtel mit mutwillig herbeigeführten Extremsituationen und Grenzerfahrungen. Nichts von der lotrechten Beglückung im erhabenen Fels, vom Triumph über die ganze, überwältigende Gravitation des Erdballs, keine atemraubenden, ja bestürzenden Beschleunigungen, nichts vom reizbaren Angesicht der wilden Katzen und der schaudernden Hochspannung des Dompteurs auf seiner höchsten Höhe der Kontrolle, dieser Macht ganz nur aus Nervenstärke, nichts von Schlachtengetümmel, blutspritzendem Niedersäbeln, nicht einmal ein Hauch vom Vorgeschmack des Landsknechts auf seinen klaftertiefen Ehrentrunk. Oder auf den herzzerreißenden Seeblick eines ausbezahlten Topmanagers. Russisches Roulette gehört nicht zu den Herausforderungen, die außerordentliche Fähigkeiten verlangen und entfesseln, wodurch die Ausnahmesituation und mehr noch ihre Meisterung den unverwechselbaren Hochgenuss verschaffen müsste.

Gewiss, auch russisches Roulette verspricht ein starkes Erlebnis, doch der Ereignisreichtum bleibt gering. Gewiss, man hat es auch im Kreis herum versucht, gruppendynamisch, einer nach dem anderen schauen sie einander zu. Man hat sich seiner als Instrument bedient, in Duellen, wo jeder nicht auf den anderen, sondern auf sich selber schießt, bis einer überlebt. Doch das führt vom Thema ab, das führt in die Psychologie und hier zu weit. Hier ist für einmal jedermann mit sich allein. Hier ist nichts als die Gefahr – sie allein, leer und öd wie reiner Alkohol, hat den begehrten Thrill, den sogenannten Angstlustkick zu verpassen. Russisches Roulette ist ein Spiel mit dem Leben und weiter nichts. Der ennui pur. Und vielleicht doch weniger Abenteuerhunger als Lebensmüdigkeit.

Greenes Bemerkungen zu seinen Erfahrungen mit dem russischen Roulette sind ungeduldig vage gehalten und nicht sehr kohärent. Etwas ausführlicher äußerte er sich in dem Band Conversations von Marie-Françoise Allain, der Tochter eines mit Greene befreundeten Agenten:

„Es handelte sich bloß um ein Spiel, ein riskantes Spiel; und es befähigte einen, das schätzen zu lernen, was man eben aufs Spiel gesetzt hatte: das Leben. Es war nicht Selbstmord. Die Trommel fasste sechs Kugeln. Ich lud sie nur mit einer. Die Chancen, die ich mir jedesmal gab, standen also fünf zu eins. Richtiger Selbstmord erfordert sehr viel mehr Mut.“

„Paradoxerweise war es auch wieder die Langeweile, die diesem Spiel ein Ende setzte. Ich wurde des russischen Roulettes ebenso müde wie jedes anderen Spieles. Die momentane Angst, die man dabei empfindet, stumpft sich ab. Das gleiche Gefühl hatte ich während des Blitzkriegs in London. ... Eines Tages also hatte ich mich auf die Gemeindewiese zurückgezogen, um wieder russisches Roulette zu spielen. Ich drückte einmal ab. Nichts. Ein zweites Mal. Nichts: die Angst «steigerte sich» nicht mehr. Da legte ich den Revolver endgültig in die Lade zurück.“

Die Rechnung: Bei sechs Versuchen mit einer Kugel in einer Sechsertrommel ist die Chancenverteilung wie folgt:

Chance des fatalen Ausgangs:

1–(5/6)6 = 1-15625/46656 = 0,66510202332

Überlebenschance:

(5/6)6 = 15625/46656 = 0,33489797668.

Wer sich an die Schule erinnert – die Chancenverteilung bei wachsender Zahl der Versuche ergibt sich aus der Potenz nicht der positiven, sondern der negativen Wahrscheinlichkeit des fatalen Ausgangs: aus der Potenz der Wahrscheinlichkeit, in diesem Fall von 5/6, dass dieser nicht eintritt. Die Wahrscheinlichkeit des fatalen Ausgangs nimmt zu, indem dessen Unwahrscheinlichkeit abnimmt. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens nimmt ab, indem dessen Unwahrscheinlichkeit zunimmt. Oder aber, so hat man den vierdimensionalen Raum – mit der Zeit als zusätzlicher Dimension – zu veranschaulichen versucht: Ein zunehmender Gegenstand spitzt sich in die Vergangenheit hin zu; ein abnehmender Gegenstand spitzt sich in die Zukunft hin zu. Zu einem ganz ähnlichen Kegel formt sich, wenn die Hemmung am Abzug zunimmt oder abnimmt, die Lebenserwartung im russischen Roulette.

Kleingedrucktes: Wie groß nun ist die Chance, dass der fatale Ausgang fünfmal ausbleibt, sich aber – trotz allem, mag man sagen – beim sechsten Versuch doch noch einstellt? Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sich exakt beim letzten Versuch erschießt, hat den folgenden Zahlenwert: (5/6)5 x 1/6 = 0,0669795.

Wie? Die Wahrscheinlichkeit, dass beim sechsten Versuch jemand sich erschießt, wäre nicht, genau wie beim ersten Versuch, wiederum 1/6? Bleibt in Ereignisfolgen die Wahrscheinlichkeit des Einzelereignisses nicht stets unverändert die gleiche? Da die Einzelereignisse sich einander gegenüber autonom, ja gänzlich ignorant und blind verhalten, als fänden einzig und allein sie selber statt, um sie herum gar nichts und ebensowenig davor oder danach? Die Frage – und sogar die damit verbundene Verwirrung – hat eine gewisse Berechtigung, denn beim sechsten Versuch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand erschießt, tatsächlich wiederum, genau wie beim ersten, zweiten oder beim dritten Versuch, gleich 1/6, sicher. Nur – die Wahrscheinlichkeit, dass es zu diesem perfiden sechsten Versuch überhaupt kommt, ist gemäß obiger Formel lediglich (5/6)5 = 3125/7776 = 0,4018775; und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sich exakt beim letzten Versuch erschießt, die gleiche wie die Wahrscheinlichkeit, dass dies, wie soll man sagen, erst beim sechsten Versuch, jetzt aber erst recht geschieht, nämlich nicht 1/6 oder 0,1616..., sondern um einiges geringer, nämlich lediglich 1/6 x 0,4018775 = 0,0669795. Folgt daraus, dass im russischen Roulette mit wachsender Zahl der Versuche beim nächsten Versuch die Wahrscheinlichkeit des fatalen Ausgangs jedesmal ein bisschen abnimmt? Nein, denn die Wahrscheinlichkeit, dass jemand beim ersten, beim zweiten, beim dritten, vierten oder beim fünften Versuch und so fort sich schon erschossen hat, nimmt jedesmal zu, beläuft sich bei fünf Versuchen bereits auf 1-0,4018775 = 0,5981225, wonach gegebenenfalls kein weiteres (somit auch kein sechstes) autonomes Einzelereignis stattfindet.