Going Antipodean

Neuland. Seeland. Eigenes Land

Von Georg Brunold, du 01.10.1996

In Neuseeland sind wir nicht schon jetzt, am Anfang der Geschichte. Wir müssen erst ankommen, in diesem Fall kann der Weg nicht geschenkt werden. Der Weg ist weit, weiter als bis zum Südpol, er führt ans Ende der Welt. Er führt zu den Antipoden. Zwar soll es Gerüchte geben, es seien im Südpazifik einer oder gar mehrere Reisende aus der Alten Welt gesehen worden, die an Antipoden und dergleichen weder Zeit noch Gedanken verschwendet hätten. Wie es hiess, sollen sie sich nur einfach auf der Suche nach abermals einem schönen Land befunden haben, da es davon ja nicht genug geben kann. Aber das sind wahrscheinlich nur Gerüchte. Dagegen steht fest, dass all die anderen, die weit reisen, es tun, weil dem Reisenden einst die Sirenen Wissen verheissen haben, Wissen von allem, was irgend geschah auf der vielernährenden Erde, und so führt eine Reise in den Südpazifik nicht irgendwohin, sondern unfehlbar zu den Antipoden.

Für einmal bleibt nichts, als am Thema festzuhalten, denn noch sind wir nicht in Neuseeland eingetroffen. Wir haben die chinesische Grenze überflogen und kaum die Hälfte der Strecke hinter uns, von Hongkong nach Auckland fliegt man noch einmal so lange wie von Zürich nach Johannesburg. Antipoden - da ist offenbar von einem Gegensatz die Rede; «Gegenfüsser» oder «Gegenfüssler» heissen die Antipoden in Grimms Deutschem Wörterbuch. Aber sogar ein Wort wie Gegensatz hat wohl bis jetzt niemals einen Gegensatz ganz allein auch hervorzubringen, zu erschaffen vermocht, und bis jetzt, auf unserem nächtlichen Flug zu den Antipoden, bleibt ihr Name so leer wie eine Kugel rund, und die Kugelgestalt scheint über die Erde einstweilen in der Tat nicht so viel zu besagen, gehört nicht zu den Merkmalen, die uns an der Welt besonders oft ins Auge springen. Diese äusserliche Gestalt der Erde mag zuweilen praktische, verkehrstechnische Vorteile zu erkennen geben, etwa indem die so zahlreichen Wege nach Rom manchmal echte Alternativen bieten oder indem man westwärts wie ostwärts nach Indien gelangt und so fort und wieder zurück. Doch ihr Unzufälliges, ihren Sinn und ihre Berechtigung, erhält diese Kugelgestalt der Erde nicht schon auf der Erde selber, das heisst nicht schon auf ihrer Oberfläche, sondern erst in einer Perspektive, welche über den Planeten hinausgreift und eine Himmelsmechanik mit einbezieht, wie es bereits die Alten - Platon und Aristoteles - taten, als sie die Frage beantworteten, weshalb die Antipoden nicht von der Erde ins All hinab fielen. Nicht einmal ihr Rugby-Ball übrigens.

Solange wir in Neuseeland nicht eingetroffen sind, haben die Antipoden uns einstweilen von der Unentbehrlichkeit und den grossen Vorzügen der Metaphern und der übertragenen Bedeutung wieder einmal ein Beispiel gegeben. Aber die Erde vom All aus gesehen ist nur eines von vielen weiteren Themen auf dem blinden Luftweg zu ihnen. Nehmen wir an dieser Stelle zur Kenntnis, dass für extraterrestrische Nachbarn die Unterteilung der Erdbewohner in die gewöhnlichen versus die Antipoden übrigens durchaus einen weiteren Aspekt aufweisen könnte, nämlich bei Umständen etwa, wie sie das Verhältnis unseres Trabanten zur Erde prägen, insofern dieser uns stets nur das eine, gleiche Mondgesicht zukehrt, niemals dagegen die Hinterseite, von der wir daher lange Zeit entsprechend wenig wussten. Haben wir es uns nicht vielleicht doch vor allem deswegen so grosse Mühe kosten lassen, zum Mond hinauf zu fliegen? Einst, zu James Cooks Zeiten, mag auch Neuseeland ein Gegenstand purer Neugierde gewesen sein.

In sphärischer Geometrie sind Neuseeländer besser bewandert als wir; zumindest was ihre eigene Lage betrifft, brauchen sie nicht im Atlas nachzuschlagen. Projiziert durch den Erdmittelpunkt auf die Nordhemisphäre, kommt die Nordspitze Neuseelands, das weiss dort jeder, vor der marokkanischen Küste, etwas nördlich von Rabat, zu liegen. Von da schwingt sich das Land über die Iberische Halbinsel hinaus in den Nordatlantik, Invercargill an der Südspitze liegt einige hundert Kilometer vor dem galizischen Kap Finisterre. Die Chatham Islands, Neuseelands östlicher Aussenposten, wären in der Gegend von Montpellier anzupeilen. Wer in Auckland, der Metropole der Antipoden, senkrecht zu Boden und durch die Erdkugel hindurch blickt, sieht genau genommen den Andalusierinnen in die Röcke. Trotzdem aber - verursacht durch irgendeine Anomalie in der Erdbewegung - sieht er in Wirklichkeit eher Engländerinnen. Damit hängt es vielleicht zusammen, wenn bisher niemand auf den Gedanken kam, von Indonesiern als den Antipoden der Ecuadorianer zu sprechen oder von den Argentiniern als Antipoden von Chinesen. Wir dürfen die Möglichkeit nicht aus den Augen verlieren, dass die Neuseeländer womöglich auf Erden überhaupt die einzigen Antipoden sind.

Inzwischen sind wir bei ihnen offenbar angekommen, ein Stück weit jedenfalls. Zum Empfang einiger Mitreisender hat sich auf dem weichen und dezent bunten Spannteppich der Flughafenhalle von Auckland ein Ensemble von Blechmusikanten in Fastnachtsmontur eingefunden, und dem Ortsunkundigen stellt sich die Frage, ob das bei den Antipoden der Regelfall sei.

Die Antipoden sind wir bei der Ankunft nicht losgeworden. Unter den Antipoden beginnt man den Tag mit den Antipoden; mit ihnen ist man in Neuseeland aufgewacht. Das heisst, dazu bedarf es ihrer, der Engländer, gar nicht mehr eigentlich, es bedarf nicht der Satellitenantenne und der Fernsehsendung aus Übersee. Das eigene, neuseeländische Radio reicht dazu. «Einen schönen guten Morgen, neuseeländische Zeit!» - sagt der Moderator. «Einen schönen guten Abend, Londoner Zeit!» - sagt der Korrespondent. Es ist sieben Uhr, gleich viel Uhr hier und dort, dort p. m., hier a. m. - Abkürzungen, die man jetzt endlich etwas besser versteht, etwas anschaulicher jedenfalls, wenn man so sagen kann; und es ist sieben Uhr hier schon heute, dort noch gestern, obwohl sich der Royal Correspondent von «Radio New Zealand» bemüht, nebenbei diese Zeitverhältnisse beiläufig etwas zurechtzurücken. So schickt er den Neuigkeiten von Prince Andrew und Fergie den Hinweis voraus, die Begebenheiten am britischen Hof, am Hof des Staatsoberhauptes auch von Neuseeland, seien in London natürlich längst nicht mehr so brandaktuell und vom selben grossen Gewicht, das ihnen zu Hause in Neuseeland noch zugemessen werde.

Diese Form des Humors kann nichts daran ändern, dass es an Nachrichten von heute in Neuseeland fast nur das Hausgemachte gibt. Sieht man von Australien ab, was man in Neuseeland immer gern tut, wird das übrige auch heute abend noch gestrig sein. In Peking ist es erst zwei Stunden nach Mitternacht, und in New York, wo Radio New Zealand bei Sotheby's Auktion der Kennedy-Devotionalien dabei ist, ist es anders als in London nicht gestern abend, sondern erst gestern mittag zwei Uhr. Eine gleiche oder doch wenigstens ähnliche Zeit wie hier gibt es nur in der Südsee und weiter nördlich in Honolulu auf Hawaii, wo es statt sieben bereits neun Uhr ist und die Sonne um so viel höher steht, nun aber vollends gestern, und so liegen, von hier aus gesehen, die Polynesier auf Tahiti nicht einige wenige Stunden der Sonne entgegen im Osten, sondern weit, weit, ein- oder zweiundzwanzig Stunden, zurück, der Sonne hintennach, im Westen. Neuseeland bleibt unaufholbar, und bei den Neuseeländern kann es sich nur um eine Avantgarde handeln.

(Wer wie die Neuseeländer das Licht des neuen Tages auf Erden als erster erblickt, dem ist zum Beispiel geläufig, was anderswo, in der Alten Welt, nicht einmal den Wert einer erwähnenswerten Spitzfindigkeit zugebilligt erhielte, dass nämlich das nächste Jahrtausend nicht mit dem 1.Januar 2000 beginnt, sondern mit dem 1.Januar 2001, dass selbstverständlich das Jahr 2000 das letzte Jahr des zweiten nachchristlichen Jahrtausends ist und nicht das erste Jahr des dritten. Vielleicht sieht man in diesem Punkt nur in einer Frontstellung wie der neuseeländischen ganz klar.)

Neuseeländer haben ein Faible für Statistiken und fast mehr noch für die charakteristischen Superlative dieser Statistiken. Neuseelands Behörden stellen pro Kopf der Bevölkerung weltweit die meisten Pässe aus. Neuseeland hat am meisten Telefaxanschlüsse pro Kopf der Bevölkerung weltweit. Man ahnt die Zielrichtung, ohne alles davon überprüft haben zu wollen. So viel Abwesenheit der restlichen Welt, so viel Abgeschiedenheit muss ihre Art von Weltzugewandtheit hervorbringen, muss der Welt eine Dauerpräsenz besonderer Art verleihen. So kann die Welt etwas an Übersichtlichkeit gewinnen, und im daran nicht gewöhnten europäischen Auge erscheint sie, als hätte sie sich mit einemmal enger zusammengezogen, als hätte sie etwas von der Natur eines Geschlossenen, Einen, worauf sich mit dem Finger zeigen liesse - ein Effekt von der Art des Bildes im verkehrt gehaltenen Fernglas. Zum Beispiel tritt einem dieses Bildchen der Welt aus dem Schaufenster eines jeden Reiseanbieters entgegegen. Sehen wir noch einmal von Australien ab, so gibt es eigentlich keine erheblichen Preisunterschiede; die Destinationen rund um die Welt sind annähernd gleich teuer, so dass man in Neuseeland fast die Einführung eines Einheitspreises für Flüge zur Welt erwägen könnte. «Wir und die Welt» - dieser Unterton, der um die Schwelle des Hörbaren pendelt, liegt so oft darüber, dass ihn der Besucher in dem so weltgängigen Neuseeland ständig zu hören glaubt.

Umgekehrt ist die Welt lange nicht auf Neuseeland aufmerksam geworden, kein Mensch hat gesagt «wir und Neuseeland», und wo also liegt Neuseeland? Die meistgelernte Fremdsprache in Neuseeland ist heute das Japanische, aber greifen wir nicht zu weit vor! Nach der europäischen Entdeckung Neuseelands durch Abel Tasman im Jahr 1642 verstrichen nochmals gegen zwei Jahrhunderte, ehe mit einer Ansiedlung von etwa 3000 britischen Auswanderern 1840 die Basis einer Staatsgründung unter der Krone Victorias gegeben schien. Ein vorausgegangenes knappes Jahrhundert der Besuche von Walfängern und der Beutezüge von Robbenjägern hatte die Inseln nicht aus der Steinzeit hinaus befördert, und die ansässige Bevölkerung von 100000 Maori, deren Vorfahren während der vorausgegangenen tausend Jahre in mehreren Wellen aus dem Pazifik zugezogen waren, zeigte kaum Spuren äusserer Einflüsse.

Etwas Statisches, eine Ruhe in sich selber, strahlt auch das Stereotyp des frühen Siedlerdaseins der britischen Wahlantipoden aus: «Es war ein eintöniges Leben, aber sehr gesund», liest man in Samuel Butlers Erewhon, der vielleicht frühesten literarischen Schilderung; «die Landschaft war denkbar grossartig». - «Endlich kam die Zeit der Schafschur...» Noch heute entfällt auf einen Neuseeländer eine Population von vierzehn Schafen, rund fünfzig Millionen auf etwas über dreieinhalb Millionen Menschen, ein Schafbestand, der - pro Kopf der Bevölkerung gerechnet - beim Siebzigtausendfachen des japanischen liegt.

Die Natur ist keine Abstraktion in Neuseeland, wo man die Menschen nach Tieren benannt hat, nach den Kiwis, den neuseeländischen Miniaturstraussen, flugunfähigen Laufvögeln, graubraun mit kräftigen Beinen und langem schnepfenartigem Schnabel. Man wird es sich bestimmt schon vorgestellt haben, unter den Kiwis findet ein Grossteil des Lebens outdoors - im Freien - statt, und dies in Zeiten, da nur mehr wenige ans Hirtenleben denken. Unter den Kiwis gilt als ein Freak, wer sich nicht wenigstens in einigen der Sportarten engagiert, von denen es in Neuseeland alles zwischen Erde und Himmel Denkbare gibt und manches mehr, wovon sich die Alte Welt nichts träumen lässt. Dazu trägt bei, dass Neuseelands gewichtigster Wirtschaftszweig heutzutage der Tourismus ist, in dieser Zeit, da der Tourismus bereits ein Siebtel der Weltbevölkerung jährlich zum Konsum des Planeten mobilisiert. Hier, wo man den Planeten als ganzen vor Augen hat, sieht man davon etwas. Zwar ist Neuseelands jährliche Besucherzahl noch nicht die weltweit grösste pro Kopf der Bevölkerung, aber sie erreicht mit mehr als 1,5 Millionen demnächst die Hälfte der letzteren, und nach zwei Tagen im Land wagte es wohl niemand zu bestreiten, wenn er in Neuseelands Statistik Zahlen finden sollte, wonach das Land die meisten Ansichtskarten pro Kopf der Bevölkerung weltweit produziert. Denn die Landschaft ist denkbar grossartig. Vor zehn Jahren endlich wurden Reste des Urwalds unter Schutz gestellt. Er hatte einst beinahe die gesamten Inseln bedeckt. Eineinhalb Jahrhunderte des kommerziellen Kahlschlags haben nicht viel davon übriggelassen. Eines steht ausser Zweifel, nämlich dass in Neuseeland die meisten Prospekte und überhaupt das meiste Tourismuswerbematerial pro Kopf der Bevölkerung weltweit gedruckt werden. Nebst der Schönheit des Landes kommt dabei eine neuseeländische Gründlichkeit, eine Abneigung gegen das Schlampige zum Tragen, die anderswo ebenfalls anzutreffen sein wird, und der Fremdenverkehr will in geordneten Bahnen verlaufen, es an Komfort auch bei der Information nicht fehlen lassen.

Unter den zahllosen Sportarten aber findet sich eine, bei der es um mehr als nur um das Vergnügen geht; es geht um die Ehre. Neuseeland liegt nicht umsonst im Pazifik mit seiner herausragenden nautischen Geschichte, und die Rede ist vom Segeln. Es steckt eben doch mehr als nur die Konvention einer Redeweise dahinter, wenn Neuseeländer «ganz unten auf der Welt» zu Hause sind. Im physischen Vergleich der beiden Hemisphären macht der erste Blick klar, dass die Zahl der Erdbewohner auf der Südhalbkugel verschwindend gering ist, dass der Norden bereits an der Landmasse des Planeten den so viel grösseren Anteil hat. Antipoden sind am weitesten weg von da, wo die gewöhnlichen Menschen leben, und geht nicht schon von ihrer fremdländischen Bezeichnung ein Hauch von Seltenheit aus? Falls es so etwas wie Antipoden tatsächlich gibt, dann sind sie zu suchen gewiss nur in jenem schwer zugänglichen, tiefen Süden, wo es fast nichts als Wasser gibt, Abertausende von Kilometern nur Wasser, wie in Neuseeland. Bis auf die Ausnahmen lebt alles am Meer, und als Lage der Metropole kommt nur Auckland in Frage: jene Stelle, wo die meisten Häfen beisammen liegen, eine im Norden und Süden von Buchten gesäumte Landbrücke, die von allen Seiten mit viel Nass eingedeckt wird.

Vergessen wir Neuseelands Statistik nicht. Obschon die Überprüfung wiederum ausbleibt: in Neuseeland werden pro Kopf der Bevölkerung weltweit die meisten Bücher verkauft, und in Erhebungen sollen mehr als 80 Prozent aller Neuseeländer als ihre erste Freizeitbeschäftigung das Lesen anführen, das damit über allen tausend Sportarten rangiert. Das lässt vermuten, Neuseeländer müssten doch auch indoors anzutreffen sein, wie das in mehr ländlichen Gegenden überall zu erwarten ist, weil es dort ausser der Natur und dem Sonnenschein, dem Wind und dem Regen nur noch die gute Stube gibt. Aber mit der Landbevölkerung hat sich ein Klischee eingeschlichen, denn 85 Prozent der Neuseeländer leben heute in Siedlungseinheiten von mehr als 1000 Einwohnern, und gegen die Hälfte des Landes lebt in einer einzigen Stadt, im Grossraum von Auckland mit seinen Satelliten.

Dennoch ist diese Verstädterung nicht umstandslos mit Urbanität gleichzusetzen, und wäre es nur, weil die neuseeländische Weltzugewandtheit sich doch in weiter Distanz zur Welt und daher selbst unter eifrigsten Lesern vorwiegend zu Hause in Neuseeland und insofern in überschaubarem Rahmen abspielt; und wäre es nur, weil dieser Rahmen es nahelegen muss, desto ausführlicher bei sich selber und den eigenen Gegebenheiten zu verweilen. Die Zeit ist vorbei, als ein jeder Neuseeländer einmal im Leben zu seiner grossen Reise aufbrach. Die kostümierten Blechmusikanten waren vielleicht dennoch ein Anzeichen dafür, dass am Flughafen von Auckland noch bis zum heutigen Tag nicht jede Reisebewegung als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Die Randlage muss Land und Leute prägen. Neuseeland hat die meisten Internet-Teilnehmer pro Kopf der Bevölkerung weltweit. Aber die «New York Times», die sich im Botschaftsviertel von Wellington endlich doch findet, kostet 30 Franken und ist zehn Tage alt, bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» daneben handelt es sich Ende April um eine Nummer vom März. Neuseeländern bleibt kaum eine andere Wahl, als sich selber und einander zu kennen, sich und einander auf den Grund zu gehen; da muss es ratsam erscheinen, dies auch zu wollen.

Das Land kennt kaum mehr als zwei Jahrhunderte Geschichte im engeren Wortsinn. Die Frage nach der Identität der Gesellschaft Neuseelands lässt sich so täglich neu und von Grund auf stellen, gewissermassen in der integralen Perspektive einer Biografie. Beim jugendlichen Alter des Landes wissen Neuseeländer von sich tatsächlich mehr als wir; die Geschichte ihrer Ankunft erscheint gleichsam erinnerlich mit der Kenntnis, in wievielter, dritter oder vierter Generation Mutter und Vater bereits hier waren. Um die Jahrhundertwende hatte das Land 800000 Einwohner, weniger als ein Viertel der heutigen Bevölkerung. Dieser Zuwachs kam zu einem guten Teil von aussen. Es ist eher die Regel als die Ausnahme, wenn es sich bei einem Elternteil um einen Immigranten handelt, und so kann es nicht befremdlich wirken, wenn im Sprachgebrauch der Vätergeneration, noch bis mindestens in die fünfziger Jahre, ein Besuch der britischen Inseln als ein Journey home, als ein Heimatbesuch, galt. Im gesamten Weltreich sprach man als Brite so.

Die Geschichte Neuseelands ist weitgehend eine angelsächsische Geschichte geblieben. Mit dem Namen Neuseeland in seiner deutschen Version verbinden sich vermutlich wenig Erinnerungen an Kriege. Anders im Gedächtnis der Pazifiknation, die es gewohnt war, von toten Verwandten nichts wiederzusehen. Dafür hat Neuseeland Gedenkstätten achtzehntausend Kilometer von der Heimat, im Zentrum der Alten Welt. Der Werdegang Neuseelands in seinen angelsächsischen Schicksalsgemeinschaften ist vor allem von drei tiefen Zäsuren geprägt. Der erste Schritt der Trennung vom Mutterland setzte am 26. April 1915 ein und wird bis heute mit dem Anzac Day, dem Tag des Australia New Zealand Army Corps, als ein Geburtstag des neuseeländischen Nationalbewusstseins begangen. Am 26. April 1915 hatte London seine australischen und neuseeländischen Freiwilligen nach Gallipoli an die Dardanellen geschickt mit der Aufgabe, als Vorhut der britischen Krone auf türkischem Feindesgebiet eine Verbindung ins Schwarze Meer zum verbündeten Russland freizukämpfen. Das Unterfangen erwies sich als Fehlschlag, und das Expeditionskorps, von den britischen Streitkräften abgeschnitten und im Stich gelassen, wurde während Monaten des heroischen Widerstands fürchterlich dezimiert.

Dem britischen Dominion Neuseeland blieb im Gedächtnis, dass Treue zur Krone nicht automatisch Treue der Krone zu bedeuten hatte, dass Antipoden für sich selber zu schauen haben. Im Zweiten Weltkrieg schuldete das britische Neuseeland seine Dankbarkeit wiederum nicht der Krone des britischen Weltreiches, sondern den Vereinigten Staaten von Amerika, die allein den Pazifik vor den Japanern zu retten vermochten. Die grosse Ernüchterung über die USA als den neuen Schirmherrn folgte mit dem Krieg in Vietnam, wohin Neuseeland gemäss der Tradition Freiwillige entsandte, nur um desto schneller die Überzeugung für die Sache zu verlieren. Neuseelands vollständige Unabhängigkeit, welche von der Krone 1947 verbrieft worden war, gab nach dieser neuen Entzweiung mit der amerikanischen Grossmacht im Pazifik ein neues Gesicht zu erkennen, bescherte den Angelsachsen der Südsee ein neues Gefühl von Einsamkeit. Die Franzosen und Greenpeace haben auf dem europäischen Kontinent die Antinuklearbewegung besser bekannt gemacht, welche Neuseeland zuvor zu seinem amerikanischen Schutzpatron auf Distanz, ja an den Rand westlicher Bündnisfähigkeit gebracht hatte. Sogar für die Beziehungen zu Australien erwies sich dies zeitweilig als Belastung.

Neuseeland pflegt allerhand Perfektionismus, in Neuseeland grassiert nicht nur das sprichwörtliche neat, clean and tidy - Worte, von denen jedes - nett, reinlich und ordentlich - stets auch die anderen zwei in sich trägt. In ihren vielen Varianten stammen die Einfamilienhäuschen allesamt aus dem Modellbaukasten, und nicht erst aus grösserer Distanz, aus einem tieffliegenden Flugzeug oder von einem gegenüberliegenden Hügel aus betrachtet, erinnern die ausgedehnten einstöckigen Wohnviertel der Gartenstädte an Spielzeug. Man erkennt schon von der gegenüberliegenden Strassenseite aus, wie da die styroporgeschützten Teile ausgepackt wurden und anschliessend alles zusammengesteckt. Konsequenz gilt nicht nur in der Ordnungsliebe. Der Taxifahrer verfügt über ein beeindruckendes Arsenal von Schrauben, Nägeln, Platten und Spangen, die der Nationalsport Rugby in seinen Schultern, Knien und Ellbogen zurückgelassen hat. Ausser von der kulturellen Differenz, welche die Antipoden von ihren Ahnen trennt, sprechen Neuseeländer gern von einer athletischen Differenz; und so wie der Taxifahrer sich seiner prothetischen Innereien rühmt, ist klar, dass es selbst dem pazifistischsten aller Kiwis in jedem Ernstfall als Selbstverständlichkeit gälte, den besten Soldaten der Welt zu stellen.

Anders als die australische - die Kiwis erwähnen das gelegentlich gutmütig - ist Neuseelands Gesellschaft nicht aus einer Sträflingskolonie hervorgegangen, und ob britisch oder nicht, es handelt sich um reliable stock. In Christchurch in Canterbury auf der Südinsel, einst Neuseelands erster grösserer Siedlung, ehrt das Heldendenkmal Robert Falcon Scott, der laut seinen letzten Tagebucheintragungen im antarktischen Eis sein Leben nicht der Wissenschaft, sondern der Krone geopfert hat. Genau dies aber trennt die Neuseeländer von Scott, die mit dem Denkmal den grossen schottischen Polarforscher ehren, und eben nicht die Krone. Eines Tages wird Neuseeland eine Republik sein, die Frage erhitzt die Gemüter nicht über Gebühr und ist daher nur eine Frage der Zeit. Eine Voraussetzung ist unzweifelhaft gegeben, nämlich das, was hier republican temper heisst - eine Haltung, die es nicht akzeptiert, dass über die Karriere eines Menschen die Geburt entscheidet. Es zählt, was einMensch geleistet hat. Die Neuseeländer sind Antipoden der englischen Aristokratie. Sie halten es mit dem Egalitarismus, und dies in einer Geschlossenheit, die in einer ansonsten recht freien Gesellschaft in diesem Punkt wohl bis heute keinen Raum für Dissens lässt. Seit1893 kennt Neuseeland auch das Wahlrecht der Frauen, lange vor allen europäischen Staaten.

Gesinnung und Habitus des republican temper sind gemeinsames Merkmal von kolonialen Gesellschaften, das heisst von Kolonistengesellschaften. Zunächst, bis die Unterschiede sich eingestellt haben, bewegen Siedler sich unter ihresgleichen. In den sechziger Jahren gab es in Neuseeland nur ein Brot, Weissbrot, den einen quaderförmigen Laib, es gab Neuseelands einen Käse, es gab einheimische Hemden und Hosen, so dass keine importiert werden mussten. Der Staat hatte alle Einfuhren zu bewilligen, und dass es ein Gut im Lande nicht gab, galt dem Staat noch lange nicht als ein Grund, es einzuführen, wenn es nicht unzweifelhaft auch gebraucht wurde. Koloniale Verwaltungen, die stets nur nach oben, der Metropole, verantwortlich sind, verstärken die egalitäre Idee um den ihnen eigenen bürokratischen Apparat. Gleich ob von Labour oder von der Rechten regiert, solange das Modell taugte, hielt sich Neuseeland an den Protektor Staat und seine Kommandowirtschaft. Die Generation der Weltkriegsveteranen hatte in der Unabhängigkeit nie das grosse Anliegen des Landes erblickt und es deshalb nicht recht zur Kenntnis genommen, als Grossbritannien in Richtung Europa und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufbrach und den Relikten des Weltreichs den Rücken kehrte.

Es scheint, die neuseeländische Wachablösung habe nicht nur auf eine neue Generation noch echterer Pioniere, ganz selbständiger Kiwis, gewartet. Eine zweite Voraussetzung war die Aussicht auf den Kollaps, auf den die gelenkte Wirtschaft hintrieb. Die Pioniere, die ihm mit waghalsigen Taten zuvorkamen, handelten nicht aus jugendlichem Abenteuerdurst, sondern unter dem Diktat der Probleme, die sie rechtzeitig erkannt hatten. «Das Ende des Wohlfahrtskonsenses» ist ein häufig gehörtes Stichwort zum Einschnitt von 1984. 1984 ist Neuseeland in eine neue Epoche eingetreten. Die einen nennen es «stille Revolution», andere sehen darin eine verspätete Normalisierung, einen Eintritt Neuseelands in die Gegenwart. Es handelt sich um das, was in jüngster Zeit allenthalben den Titel der liberalen Reformen trägt, um den Rückzug des Staats aus der Wirtschaft, um die Freigabe der Bahn für die Urgewalten des Kapitalismus. Kostenminimieren, Privatisieren, Gewinnmaximieren. Vergrösserte Einkommensunterschiede, erhöhte Arbeitslosigkeit, abnehmende soziale Sicherheit. Während in der Folge eine ausgeprägte soziale Polarisierung der neuseeländischen Gesellschaft festgestellt wurde, waltete unter den führenden Politikern beider Lager das unausgesprochene Einvernehmen, dass es im Grundsätzlichen keine Alternative gab.

Er ist höchst kontrovers geblieben, derselbe Prozess, der so unterschiedliche Namen hat, so kontrovers wie die Frage nach seinen Erfolgen und Misserfolgen; doch wie er 1984 bezeichnenderweise von Labour begonnen wurde, so wird er seit 1990 von der rechten Regierung der National Party fortgesetzt. Politiker sind auch in Neuseeland Politiker. Um ihnen dennoch nicht zuviel Unrecht widerfahren zu lassen: In Anbetracht der Taten erscheint es fragwürdig, Neuseelands zwei politische Lager in einem Verhältnis von Widersachern wie andernorts üblich zu sehen. Neuseeländer sind nicht von der Art etwa der Italo-Iren auf Malta, wo die Parteilokale bis zur dritten Etage hinter Wällen von Sandsäcken geschützt sind und es dennoch in jedem Wahlkampf Tote gibt. Es gab in Neuseeland nie sozialistische Regierungschefs, die von der katholischen Kirche exkommuniziert waren. Falls unter Kiwis nicht stets nur Fairplay herrscht, so immerhin eine hohe Meinung davon, und statt wie Opponenten wirken Neuseelands so zivile Parteien weitgehend komplementär: Labour hat zunächst andere Anliegen, hat aber nichts gegen Wachstum, die National Party hat zunächst andere Anliegen, aber nichts gegen die Gebote von Umweltschutz, und während so in Neuseeland alle Vertreter ihre Anliegen und alle Anliegen ihre Vertreter haben, braucht keinem Anliegen sein Recht abgesprochen zu werden. Das wird damit zu tun haben, dass die neuen kapitalistischen Härten in Neuseeland weniger hart sind als anderswo und nicht so sehr schmerzen, wie es der Chor der Klagen vermuten liesse. Bei einem Niveau von Einkommen und Kosten, das dem Irlands oder Spaniens vergleichbar ist, hat die neue Kiwi-Generation der Wirtschaft einen robusten, anhaltenden Aufwärtstrend verpasst.

Was sich seit der Wende von 1984 in Neuseeland auf dem Vormarsch befindet, ist ein gesellschaftlicher Pluralismus, und dies in mehrfacher Hinsicht. Mit dem sozialen Wandel einhergegangen sind Entwicklungen, die teils mit dem Abschied vom ehedem weitgehend verwirklichten Egalitarismus, teils mehr mit Veränderungen im pazifischen Grossraum zusammenhängen. 1951 waren von den Neuseeländern 92 Prozent britischstämmig; 1981 hielten die Europäer einen Anteil von 86 Prozent. Bis 1995 hat sich ihr Anteil auf 73,8 Prozent verringert. Sie teilen sich das Land mit 12,9 Prozent Maori, weiter mit 3,5 Prozent Polynesiern sowie mit 13 Prozent «anderen», das sind Asiaten. (Diese Zahlen der jüngsten einschlägigen Publikation des amtlichen Department of Statistics summieren sich zu einem Total von 103,2 Prozent, ein vielleicht nicht so erheblicher Fehler pro Kopf der Bevölkerung und weltweit gesehen, aber doch ein willkommener Anlass zu einer Klammerbemerkung über die oben mehrmals erwähnte neuseeländische Beflissenheit in Statistik.)

Man sieht, es sind demografisch erhebliche Veränderungen im Gange. Besonders drastisch führt dies das himmelsstürmende Erscheinungsbild Aucklands vor Augen. Eine Kreuzung von Bristol und Hongkong ungefähr, nur dass in Auckland alles ganz jung und neu ist. Wer aus dem Westen kommt, von Europa über Ostasien, der übersieht in der Skyline der kosmopolitischen Wolkenkratzer von Auckland anfangs vielleicht ein Element, auf das er im ländlichen Neuseeland mit seiner Western-Architektur wieder stossen wird: San Francisco und die amerikanische Pazifikküste. Daran ist für einmal nichts von Antipoden, denn «antipodean» heisst in Neuseelands Architektur immer nur das, was sich vom britischen Vorbild nicht unterscheidet, sondern zu seiner Zeit nur etwas sparsamer daherkam; so handelt es sich bei einer hundertjährigen Fassade mit Rundbogen um Antipodean Gothics, und in analoger Weise gibt es in Neuseeland eine antipodische Klassik.

Neuseelands angelsächsische Immigranten kamen auf mehreren Wegen. Während das für die Jüngeren gar keine Frage mehr ist, bestätigen es heute auch die Fünfzigjährigen, dass auf Neuseeland von keinem Land so nachhaltige Einflüsse ausgingen wie von den USA. Das ist in diesem Fall gleichbedeutend mit Kalifornien. Von dort wanderten in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Zehntausende von mittellosen Goldgräbern zu. Heute kommt aus Kalifornien der neueste weltanschauliche Chic, nicht so sehr politischer Art, dafür aber in Form von Musik, Mode, Psychomoden und Gesundbeterwellen, und aus Kalifornien kommen Aucklands giganteskes Casino und, nicht zu vergessen, die riesigen Salons mit den sogenannten Geschicklichkeitsspielen. Da sitzt, ganze Strassenzüge lang, die Stadtjugend vor übermannshohen Videodisplays, und vom Pilotensitz aus mit schwerer Waffe, sich von Haus zu Haus vorkämpfend, mäht sie unzählbare Heere von Feinden nieder.

Während schon solche Strassenschlachten ein bisschen ausserhalb oder wenigstens eher am Rand von Europa liegen, sind es seit einiger Zeit nicht nur mehr die Angelsachsen, die in Neuseeland Aufmerksamkeit wecken. Von den Maori war einst weniger die Rede als in der jüngsten Zeit. Nachdem in den fünfziger Jahren eine starke Abwanderung aus den Maori-Gebieten in die Städte eingesetzt hatte, schien die Losung Integration nur dem sozusagen natürlichen, jedenfalls unaufhaltsamen Gang der Dinge Rechnung tragen zu wollen. Auch darin brachten die achtziger Jahre eine Kehrtwende von 180 Grad. Der Vertrag von Waitangi von 1840, der - lange Zeit nur dem Buchstaben nach - das Verhältnis der ansässigen Maori zur britischen Krone regelte, hat seit Mitte der achtziger Jahre den Status einer Verfassung. Gewiss zeitigt das alte Rezept der Integration weiterhin seine Folgen, an erster Stelle natürlich, was die Maori-Sprache betrifft. So waren von rund 60000 native speakers um 1970 zehn Jahre später rund 45000 übrig, 1995 aber nur noch etwa 10000. An erziehungspolitischen Bemühungen um die Sprache fehlt es nicht, doch ein Urteil über ihre Wirkungen und Aussichten wäre verfrüht.

Aber seit Mitte der achtziger Jahre heisst Neuseelands Staats- und Gesellschaftsphilosophie Bikulturalismus. Der Anteil der Maori - 1951 weniger als sieben Prozent - hat sich fast verdoppelt, und die Ursache liegt nicht nur in einer höheren Geburtenrate. Seitdem der Minderheit und ihren Ansprüchen die Anerkennung nicht länger verweigert und Wiedergutmachung in Aussicht gestellt wird, haben sich manche Neuseeländer auf verdrängte pazifische Zweige in ihren Stammbäumen besonnen. Die Konzilianz der Mehrheit kann sich nur auszahlen, denn die Touristen und die Prospekte wollen wie überall auf der Welt zweierlei: nicht nur Natur, sondern darüber hinaus Kultur, und in Neuseelands Fall ist das erstens Landschaft und zweitens Maori-Kunsthandwerk.

Wozu aber Bikulturalismus und warum nicht, mit Blick in die Zukunft, gleich ohne Umwege zum Multikulturalismus? Weil der Ruf nach Multikulturalismus, so lautet Neuseelands politisch korrekte Antwort, nur zu Lasten des Bikulturalismus gehen kann, nur geeignet ist, die Maori-Frage herunterzuspielen, während die Minderheit im langen Kampf um ihre Rechte soeben endlich die ersten Erfolge verbucht hat. Bikulturalismus also, und damit zwei Lager nur: eine Minderheit der Maori und eine Mehrheit der anderen? So einfach wird sich das Thema nicht erledigen lassen. Die meisten Neuseeländer haben also angelsächsische Vorfahren, zur Hauptsache Emigranten von den britischen Inseln. Mittlerweile sind sie Neuseeländer, und neuerdings sagen sie, dass Neuseeländer sein - und dabei nicht Maori sein - sich nicht in den zwei Eigenheiten erschöpft, europäische Vorfahren zu haben, aber selber kein Europäer mehr zu sein. Europäische Vorfahren haben: das braucht keine Probleme aufzugeben; aber kein Europäer mehr sein: aus dem, was man nicht ist, entnimmt man noch nicht, was man ist - das negative Attribut bedarf einer positiven Ergänzung.

Solche Fragen, wer wir seien, sind bekanntermassen vertrackt. Schlimmer wird es, wenn es in den betreffenden Nachforschungen nicht nur darum geht, eine bereits bestehende Grösse präziser zu bestimmen, sondern wenn die Frage das, wonach sie fragt, allererst herzustellen, diese fragliche Identität erst herauszubilden hat. Zwar müsste Neuseelands Situation auch etwas Entlastendes haben, etwas von einer Jugend, die noch nicht ganz unverbesserlich sein kann. «Wir sind ein Volk im Werden», sagen die Neuseeländer, und beileibe nicht alle können von sich dasselbe behaupten. Aber die Frage wird mit einem Paradox auflauern, denn mit der gefragten Identität ist etwas Eigenständiges, etwas nicht auf Altes reduzierbares Neues gefragt. Die verordnete Identitätssuche hingegen droht stets wieder nur nach den alten Wurzeln zu graben, und so wird in Tradition und Vergangenheit unweigerlich das reaktiviert, wovon es sich ja gerade zu lösen galt. «Eine junge Nation mit alten Wurzeln», seufzen Neuseeländer manchmal gern.

Könnte es ihnen darum gehen, endlich doch nicht auf ewig Briten zu bleiben? Jene Briten, die einst als Kolonisatoren ins Land kamen und die Kultur der Autochthonen zerstörten, nur um die mitgebrachte eigene Kultur obendrein zu verlieren? Eine Diskussion solcher Angelegenheiten, welche die Bezeichnung verdient, ist seit bald fünfzehn Jahren zu beobachten. Sie ist damit jünger noch als das Land, nur ein Zehntel so alt wie dieses, und entsprechend offen müsste sie sein, denn schliesslich findet sich Neuseeland auf keinen Kontinent festgelegt, gehört nicht einmal einem Kontinent an.

Die Neuseeländer, die keine Maori sind, haben in diesen fünfzehn Jahren immerhin zu einem Namen für sich gefunden. Und der Name hätte, so erwartet man doch, etwas von der positiven Bestimmung zu enthalten, die den negativen Merkmalen «kein Europäer» und «kein Maori» abgeht. Sie haben sich dabei mit einer Sprache beholfen, von denen die erdrückende Mehrheit dieser Neuseeländer denkbar wenig versteht, nämlich mit dem te reo Maori. Wiki heisst week, hipi heisst sheep, moni heisst money, und die Queen ist die Kuini. Der Neuseeländer indessen, der kein Maori ist, ist ein Pakeha. Die Etymologie ist dunkel und ungeklärt. Für existentielle Fragen, Fragen der Existenz eines Pakeha, gibt es Workshops und Selbsterfahrungsgruppen. Ein Fremder ist ein Pakeha nicht, sonst müsste er ein tauiwi geheissen werden. Man hat sich darauf geeinigt, dass mit der Bezeichnung «die Pakeha» soviel wie «die anderen» gemeint sind. Aber Vorsicht mit dieser Identität der «anderen»! Nicht alle «anderen», sondern nur die Angelsachsen und Europäer; der Chinese und der Inder dagegen sind keine Pakeha, sondern bleiben in Neuseeland, anders als die Engländer, ein Chinese und ein Inder. Auckland wird zudem nebenbei die wahre Hauptstadt der Polynesier genannt, beherbergt deren grösste Gemeinde, und diese sind keine Pakeha, sondern noch in der fünften Generation Polynesier.

Das muss mit Neuseelands Bikulturalismus zusammenhängen und damit, dass der Ruf nach dem Multikulturalismus in grösserer, aber nur zu realer Perspektive doch nicht nur zu Lasten der Minderheit der Maori geht, sondern durchaus zu Lasten auch der Mehrheit jener Neuseeländer mit den angelsächsischen Vorfahren, sprich: der Pakeha. In Umfragen äusserte kürzlich eine grosse Mehrheit der Australier die Meinung, sie und ihr Land gehörten zu Asien. Die Neuseeländer teilten diese Auffassung nicht, und ebenso wie die Bewohner anderer Weltgegenden haben Neuseeländer immerhin Identität genug, um Xenophobien zu entwickeln, bis heute allerdings in liebenswert milder Ausprägung. Neuseelands Wirtschaft ist auf auswärtige Investoren angewiesen, und so gehen Menschen und Geld durcheinander. In den achtziger Jahren stellten die Polynesier den grössten Anteil der Einwanderer, ganz knapp vor den Briten. In den neunziger Jahren sind die Immigranten aus Asien weit in Führung gegangen, ihre Zahl übertrifft um die Hälfte jene der Polynesier und Briten zusammen. Die Einwanderer kommen aus Asien, soviel trifft zu, aber keineswegs, wie es immer heisst, auch die grosse Mehrheit des fremden Geldes, von dem ja dann nichts im Land bleibe, sondern sowieso alles zurück in die asiatischen Herkunftsländer fliesse. Entgegen solcher Hetzpropaganda kommt das auswärtige Geld nach wie vor zu achtzig Prozent aus den USA, Europa und Australien. Bis heute wäre im Finanzzufluss weniger der Vorbote einer gelben Gefahr zu fürchten, als vielmehr ein Bollwerk dagegen zu begrüssen.

Das Trugbild mag daher rühren, dass Japaner und Taiwaner ihren neuen Reichtum ungehemmter zur Schau tragen als etwa Schotten und Iren, und an diesem Anblick stösst sich der egalitäre Geist. In diesem Punkt kann sich der Bikulturalismus der Pakeha und der Maori fester zusammenkitten bis fast zu einem Monokulturalismus. Neuseelands neuer Pluralismus fand einen Niederschlag auch in der Abkehr vom Zweiparteiensystem, und am meisten Zulauf von den neuen Parteien findet derzeit die, welche den Kampf gegen den Ausverkauf der Heimat aufs Banner geschrieben hat. Ihr Führer ist ein Maori.

Godzone - Gottes eigenes Land - lautete ein klingender, ruhmvoller Name Neuseelands. Im Paradies sind die Verhältnisse komplizierter geworden, und bald gibt es in Auckland und anderswo in Neuseeland Kriminalität wie in allen Teilen der hochentwickelten westlichen Welt. Aber Neuseeland zieht weiterhin Zuzügler an, und die Kiwis dürfen es zu einem guten Teil sich selber zugute halten. Denn sie sind alle - Maori, Pakeha, Polynesier und andere - sehr liebenswürdige und höfliche Leute. Lovely gehört, wenn schon, als viertes Wort zum «neat, clean and tidy»: «lovely» sagt in Neuseeland der Kassierer, wenn der Hotelgast zahlen möchte, «lovely» sagt die Kellnerin, die die Bestellung aufnimmt, und so, wie sie das sagen, ist es tatsächlich lovely, und das Wort, das ja selber recht lovely klingt, trifft also zu.

Es ist, als hätte Neuseeland auch für die Einheimischen noch immer etwas von einem Gastland, von einem Land, welches sie verpflichtet. Er ist von den Neuseeländern nicht wegzudenken, dieser Anstand und unkomplizierte, warme Menschenverstand, ein common sense, wie man sagt. Es ist, als verpflichte ihr Land sie, dazu Sorge zu tragen. Gewiss kommt es daher, dass sie angesichts eines jeden Problems immer rasch etwas alarmiert erscheinen, rascher als die Vettern in der Alten Welt, und in der Tat ist nichts einfacher geworden, seit Neuseeland nicht mehr nur eine grosse Schaffarm der britischen Inseln ist. Es wird nicht einfacher dadurch, dass dem Land eine grosse Zukunft einzig mit dem Tourismus in Aussicht steht - mit seiner grossartigen Natur, wo im asiatischen Wirtschaftswunder nach den Japanern, Taiwanern, Malaysiern demnächst auch die Kapitalisten der Volksrepublik China Erfrischung suchen dürften. Neuseeland ist nur ein klein wenig grösser als Italien ohne die Inseln Sardinien und Sizilien, viel kleiner als Australien, wo deshalb die ökologischen Sorgen, die den Tourismus begleiten, weniger bekannt sind.

Die Entwicklungen der achtziger Jahre haben die Neuseeländer neu auf die Füsse gestellt, den Kopf hoch erhoben wie schon zuvor, aber mit Ausblick auf eine neue Vergangenheit. Wie bisher wird diese eine besondere sein: von jetzt an nämlich die Vergangenheit der Antipoden. Wenn Neuseeland der Welt - oder eher die Welt Neuseeland - etwas nähergerückt ist, so müssen sich die Neuseeländer weiter von uns entfernen, in Richtung der Erdbewohner, die ihnen geografisch näher sind. Es liegen so viele Welten dazwischen - zwischen dem europäischen Mutterland und Neuseeland: Skipetaren und Kurden, syrische Aramäer und omanische Kharijiden, Kalkutta und die Bengalen, Mon-Völker und Siamesen, Steinzeiten auf Papua-Neuguinea und Borneo. Am gegenüberliegenden Ende der Welt treffen wir noch einmal auf dieselben Menschen, die wir aus unserer Heimat zu kennen glauben. Nicht vollends exakt die gleichen sind es, natürlich nicht, aber die Unterschiede eignen sich mehr zur Hervorhebung der Gemeinsamkeit. Es besteht kein Grund, sich darüber zu wundern, denn die Neuseeländer gehören zu jenen, die auszogen, den ganzen Planeten zu erobern. Als erste erreichten sie das andere Ende der Welt, wo diese Pioniere nun also kopfüberstanden. Wie gewohnt nahmen sie dieses Land in Besitz und markieren bis heute die äusserste Grenze im letzten Projekt eines Weltreiches, das von Seefahrerverbänden erobert und zu Land und zu Wasser regiert werden sollte. Antipoden: Endstation Abendland. Und noch residiert gegenüber die Queen. Welcher Umstand sonst hätte die eigentümliche Vokabel alter Griechen am Leben erhalten?

Die Neuseeländer, die Antipoden, werden dazu beigetragen haben. Vielleicht gab es bei ihnen seit längerem einen besseren, vernünftigeren Schlag von Europäern als die alten, zu Hause gebliebenen. Vielleicht sind die Neuseeländer Europäer der Art geblieben, wie einst ein älterer europäischer Geist die Europäer ausgedacht und entworfen hatte, weniger missratene Bürger als auf dieser Seite des Globus, wo in der Ausführung alles stark von den Plänen der neuzeitlichen Aufklärung abwich und wo der Europäer nicht vom Pazifik, sondern von den Realitäten europäischen Lebens seine Prägung erhielt. Dass Europa auf unserer Seite des Globus zeitweilig bessere Absichten gehegt haben muss, als es sich hinterher an den Früchten ablesen liess, davon kann das Emigrantenland Neuseeland Zeugnis ablegen. Anders aber als die Vergangenheit unserer Antipoden kann Neuseelands Zukunft nicht zurück nach Europa weisen. Sie weist durchaus in die eigene Hemisphäre, und von Auckland aus betrachtet, wo diese Zukunft bereits angebrochen ist, scheint die Gegenwart des übrigen Landes bereits der Vergangenheit anzugehören.

Bis zur letzten Jahrtausendwende war Neuseeland auf dem Planeten das letzte grössere Stück Land, das keine Spur einer Berührung mit Menschen trug. «Ich werde es Ihnen sagen, was Neuseeland ist!» sagt ein Neuseeländer. «Neuseeland ist das Land, wo die Schöpfung am fünften Tag zu Ende war.» Neuseeländer haben nicht nur die Schöpfungsgeschichte im Kopf präsent, sondern nehmen überdies an, uns gehe es ebenso. Neuseeländer sehen die Welt auch unter diesem Blickwinkel als ganzes. In der Bibel steht es geschrieben, dass Gott am sechsten Tag seines Werkes nicht nur den Menschen erschuf, sondern - so das Erste Buch Mose - «alle die verschiedenen Arten des Wildes und des Viehs». Bis zur Einwanderung des Homo sapiens, in dessen Gefolge sie viel später eintrafen, gab es in Neuseeland ausser den Robben keine Säugetiere. Es war ein grünes Land, gekleidet in seinen südlichen Urwald. Mit einer Zahl von dreieinhalb Millionen auf einem Gebiet von der Grösse des Festlandes Italiens sind die Antipoden rar geblieben, und Neuseelands Südinsel mit ihrer Weite und Tiefe hat bis heute stets jeden Ehrfurcht und Demut vor der Erhabenheit der grossen Natur und der Werke Gottes gelehrt. Doch Pelzzüchter aus Australien und Tasmanien haben das Opossum eingeschleppt, ein kleines energisches Beuteltier, eine Spezies von Ratte. Nachdem die Holzindustrie den Raubbau am Wald eingestellt hat, frisst eine Population von etwa 70 Millionen Opossums weiter, und bis jetzt ist kein Mittel dagegen gefunden. Aber in erster Linie waren die Kiwis stets Pioniere, und noch lebt in jedem Kiwi etwas davon. Pionieren und Neuseeländern, nicht zu vergessen besonders den Pakeha, wartet die Zukunft mit Unbekanntem auf.·