Freiheitsliebende Bergstämme

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.07.2002

Ein Krieg von weltpolitischer Bedeutung war es gewesen, der jemenitische Bürgerkrieg, ein – wenn nicht der – Höhepunkt des Kalten Krieges auf arabischem Boden. Nassers 70’000 ägyptischen Soldaten, die für das Militärregime in Sanaa kämpften, war es nicht gelungen, den Aufstand der von Saudi-Arabien unterstützten nördlichen Stämme niederzuringen. Doch nach der vernichtenden arabischen Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 durfte Jemens junge republikanische Armee dennoch siegreich aus dem Stellvertreterkrieg hervorgehen. Denn dank Israel hatte in den arabischen Stammlanden östlich von Suez die saudische Monarchie unter Faisal die Oberhand behalten gegen das Gespenst des panarabischen Sozialismus aus Kairo, der arabischen Kapitale am Nil. Dem Nationalismus und der utopisch großen Einheit von Rabat bis Kuwait hatte die Stunde geschlagen, und fern am Horizont dämmerte schon die Ära der arabisch-islamischen Politik der Religion (und des Öls) – wenn auch noch unbemerkt.

Doch von jenem Krieg war schon damals, als ich 1980 zum ersten Mal nach Jemen kam, außerhalb des Nahen Ostens wenig im Gedächtnis übrig, und nicht darüber wollte ich schreiben – auch nicht darüber, wie man mir im Ministerium in Sanaa die neuste Nummer von «Newsweek» mit dem Titelbild der Zürcher «Nacktdemo» auf den Tisch legte und einer der zwei Beamten mich mit diesem unvergesslich ausdruckslosen Blick fragte, was denn diese Leute da bei uns zu Hause wollten. Nein, schreiben wollte ich von freiheitsliebenden Bergstämmen, wie sie sich soeben zu ihrer Loya Jirga in Kabul versammelt haben. Zehn Jahre waren es seit dem Krieg, und Abgesandte der Regierung hatten Zutritt ungefähr zum halben Staatsgebiet des damaligen Nordjemen. Es sei denn, man ließ sie eine Schule bauen oder ein Spital.

1980 waren im «Kino Bilqis» in Sanaa die Kalaschnikows nicht mehr zugelassen und sogar die Krummdolche in der Garderobe abzugeben, so dass das Publikum, im übrigen unvermischt maskulin, mit leerer Scheide dasaß – ein entwürdigender Aufzug, der bis dahin außer Haus für die Abbüßung mittelschwerer Straftaten reserviert geblieben war, ähnlich den enggeschnallten Fußschellen, wie man sie in den Dörfern sieht. Aber noch wies die Leinwand Einschüsse von Kugeln auf, die aus dem Saal auf Bösewichte abgefeuert wurden. Das änderte sich schon wenig später, und nun, vor einigen Monaten, drang der Staat mit Elitetruppen in jähe Talschaften vor, wo an einer Koranschule Parteigänger von al-Qaida ihre Lektionen absolvierten.

Doch der Normalfall ist das auch heute nicht. Die Regierung hat sich, wo sie vorstellig zu werden gedenkt, zuerst mit den Schujuch – den Scheichs oder lokalen Stammesobersten – ins Reine zu setzen, das heißt, diesen ausnahmsweise etwas aus der Staatskasse zu überlassen. Was ansonsten landesweit für einen fiskusartigen Geldumlauf zu sorgen hat, sind Steuern auf Konsumgütern einerseits und informelle Binnenzölle auf dem Narkotikum Qat andererseits, den bitterborstigen Blättern, die zu kauen die gesamte männliche Nation sich kurz nach Mittag niederlässt. Wie das afghanische, obschon viel zurückhaltender, mochte auch ein Volk wie das jemenitische in gut dreißig Jahren drei, vier weitere Kriege gegen sich selber führen – und hat sich dabei im Grunde immer unzweideutig mit sich selber identifiziert. Zumal Nachbarn wie den Saudis gegenüber. Aber mit dem Staat? Und wär's der eigene: Unter so freiheitsliebenden Stämmen, selbst wo – ganz anders als in Afghanistan – alle die gleiche Sprache sprechen, kann das die für so etwas erforderliche Zeit oder, wie sagt man, Weile dauern.