Embryonenschutz über alles?

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.10.2001

Stellen wir uns vor, für jedes Neugeborene, das man für gut befinden und auf den Lebensweg schicken möchte, wären acht oder neun Schwangerschaften vonnöten, und die überzähligen Föten würden – über den Zeitpunkt könnten nur diagnostische Erfordernisse entscheiden – aus der Welt geschafft. Zwar ist das glücklicherweise nicht, was bei einer In-vitro-Fertilisation faktisch vor sich geht. Doch dabei werden überzählige Embryonen erzeugt, und der Streit darum, ob diesen, ehe sie vernichtet werden, zu Forschungszwecken Stammzellen entnommen werden dürfen, wird von den Gegnern manchenorts – zumal in Deutschland – mit einer Erbitterung geführt, die nur duch eine Analogie wie die eben angedeutete begreiflich werden kann.

In England beispielsweise, wo darüber Buch geführt wird, wurden seit 1991 in vitro 925’747 Eizellen befruchtet. Nur etwas über 50’000 von diesen Embryonen sind als Babies geboren worden. 53’497 wurden in der Forschung verwendet, 294’584 vernichtet; maximal fünf Jahre dürfen sie gelagert werden. Die In-vitro-Fertilisation generell abzulehnen gilt heute meistenteils als sektiererisch, doch der Widerstand gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen beschränkt sich nicht auf Randgruppen, sondern droht in verschiedenen Ländern – darunter auch die Schweiz- die Politik zu bestimmen.

Die Erzeugung überzähliger Embryonen überhaupt zuzulassen braucht gute Gründe, muss man denken; und nicht weniger stark dürfen die Gründe sein, diese nicht eingepflanzten Zellkonglomerate der Forschung vorzuenthalten. Das Argument für ein Verbot, wenn die In-vitro-Fertilisation doch zugelassen werden soll, lautet gewöhnlich, dass allein ein Ziel die künstliche Erzeugung von Embryonen rechtfertigen kann: die Unfruchtbarkeit der Frau zu überwinden. Dieser einzige Zweck soll also das Mittel heiligen, nicht aber die Hoffnung auf bahnbrechende Fortschritte der Medizin mit der Aussicht, in großer Zahl Leben zu retten? Mittel gegen Parkinson, Alzheimer, Krebsleiden zu finden? Geht nicht sogar beim Papst das Leben der Mutter dem des Ungeborenen vor?

Bleibt am Ende nicht doch ein Missverhältnis zwischen der Bereitschaft einerseits, Embryonen im frühesten Stadium zu Tausenden zu opfern, und der Weigerung andererseits, sie einer Forschung von unstrittiger Bedeutung zu überlassen? Die Toleranz angesichts dieser Verschwendung legt vor allem die Vermutung nahe, dass auch eifrige Fürsprecher des Embryonenschutzes darin nicht im Ernst den permanenten Massenmord an ungeborenen Kindern sehen können, den sie dem Publikum einflüstern wollen. So schnell es geht, bringen sie stets die Rede auf die unantastbare Menschenwürde, die keine graduelle Angelegenheit sein kann, nicht einmal in der Petrischale, hört man. Die Genese eines Individuums im Mutterleib dagegen ist dies wohl, und deshalb betrachten große Lebenswissenschaftler wie Stephen J.Gould das von bloßem Auge nicht sichtbare Gebilde in der Schale nicht als menschliches Leben. Dieses ist, sagt auch der Medizinnobelpreisträger Harold Varmus, «etwas komplizierter als der Vorgang, aus Samen und Ei eine Zelle zu bilden».

Gould zitiert eine Bemerkung Karl Ernst von Baers, der 1827 die Eizelle der Säugetiere entdeckt hatte. Alle neuen und wahrhaft bedeutenden Ideen hätten drei Stadien zu durchlaufen: Zuerst werden sie als Unsinn abgetan; dann werden sie als Verstoß gegen die Religion abgelehnt, und schließlich werden sie anerkannt – von den ehemaligen Gegnern nicht ohne den Zusatz, sie hätten es immer schon gewusst. Die Gentechnologie hat, so Gould, das erste Stadium hinter sich.