Kriminell und ein korruptes Wort

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.04.2001

Vom Sein lehrt Aristoteles, es werde in mehrfacher Bedeutung ausgesagt. Noch mehr Begriffe gibt es, den Geist nach Hegel, die Ware nach Marx, die Liebe nach Spinoza, das Sexuelle nach Freud, welche – so viel ist ihnen gemeinsam – die Schwerkraft von schwarzen Löchern entfalten und alles, was uns in diesem Universum je begegnen kann, verschlucken. Versuchen wir, für einen Augenblick unser Gesichtsfeld einzuschränken auf eine Vokabel wie «korrupt», und alsbald spüren wir, wie uns das schwerfällt.

«Korrupt» kurzerhand mit «bestechlich» gleichzusetzen wäre eine unzulässige Einengung des Begriffs, der durchaus ohne direkten Bezug auf Geld auskommt. Mit der weniger handgreiflichen Macht von Beziehungen breitet sich ein weites Feld aus, nicht nur überall, wo sich das Wort Geschäft etwa mit dem Wort Freundschaft verbindet, sondern genauso im Schacher um Positionen und Ämter. In manchen Ländern gewährt das Gesetz engsten Verwandten Straferlass wenn auch nicht für Beihilfe zu einem Verbrechen, so doch für dessen Deckung. So kann sich die Familie, dieses tragende Element der Gesellschaft, als Keimzelle der «Korruption» erweisen, und selbst als Inbegriff staatsbürgerlicher Tugenden verliert die Integrität – wohl der gefragte Gegenbegriff zu «Korruption»? – sich in Randbezirken, wo Loyalitäten besonderer und persönlicher Art unsere unbedingte Gesetzestreue Prioritäten unterwerfen. Für «Korruption» jedoch ist Gesetzesbeugung noch nicht einmal eine notwendige Bedingung, der Begriff muss grundsätzlich jede Form institutionalisierter Begünstigung oder Benachteiligung einschließen.

«Korrupt» nun ist in allererster Linie, nicht wahr, die «Dritte Welt». Sicher, längst nicht alles, was «Korruption» ist in der «Dritten Welt», ist Staat. Nicht bloß Schalterbeamte von Behörden oder Postboten sind gezwungen, tips und bribes zu nehmen, ohne die in keinem Sektor einer überleben würde. Aber alles, was dort Staat ist oder einmal war, ist «Korruption». Und angesichts der Verhältnisse in Ländern, wo die gefährlichste und destruktivste kriminelle Energie sich rund um die Staatsspitze konzentriert, käme es darauf an, die Verbrechen einzeln bei ihren korrekten und wohlbekannten Namen zu nennen: Bestechung und Nötigung, Veruntreuung und Unterschlagung, Diebstahl, Plünderung und Freiheitsberaubung, Folter und Mord. Statt dessen gibt es für so gut wie alles dieses eine Wort, im Singular: die «Korruption».

Der Begriff «Korruption» betreibt auf der einen Seite eine grobfahrlässige bis vorsätzliche Verharmlosung, welche schwerste Verbrechen gegen die gesamte Nation in den Rang einer administrativen Inkompetenz herabstuft. Der Unbegriff, der vielleicht häufiger noch als ein Verbrechen einen Akt purer Notwehr eben dagegen bezeichnet, kriminalisiert auf der anderen Seite ganze Gesellschaften, die im Überlebenskampf gegen ein kriminelles Regime tagtäglich ihr bewundernswertes Standvermögen beweisen. «Korruption» ist ein Fremdwort von exakt derselben distinktiven Kraft wie das Wort Schweinerei. Während es Recht und Gerechtigkeit fordern will, betreibt es das Gegenteil, zieht vor den Verbrechen und Gebrechen, die es charakterisieren soll, einen großen Vorhang, deponiert alles auf ein und demselben Müllhaufen, dessen Anblick es erspart, und man muss fragen, ob das Wort nicht selber etwas durchaus «Korruptes», ja beinahe etwas Kriminelles hat. Anders als beim Sein und seinem Begriff, die unentbehrlich sind, wäre eine Welt nicht erst ohne alle «Korruption», sondern schon ohne dieses Wort eine – wenn auch um eine Spur bloß – bessere Welt.