Und das hieß Geschlechterfrage

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.02.2001

Auf der Erde gab es zwei Geschlechter, und seit Ernst O. das aufgefallen war, wunderte er sich über gar nichts mehr. Vieles auf der Erde gab es wenn aus keinem anderen Grund, so doch der Vollständigkeit halber, darunter die Niedertracht und Perfidie, und der Vollständigkeit halber gab es beides in jedem Grad und Ausmaß. Nicht einmal, dass das nötig gewesen wäre, es konnte sowieso nicht anders sein, als dass eines von den zwei Geschlechtern schöner war als das andere, keine zwei verschiedenen Dinge konnten exakt gleich schön sein. Und waren beim schöneren von Exemplar zu Exemplar die Unterschiede nicht unbedingt die größeren als beim anderen, so konnte dennoch das Gewicht, das ihnen beigemessen wurde, darauf war Ernst O. gefasst, nur das größte sein.

Casanova begehrte deshalb bloß die schönen Frauen alle, hieß es von ihm, nicht wie Don Juan alle Frauen. Das war etwas anderes. So musste es wenigstens Casanova selber gesehen haben, und dass das nicht ganz dasselbe war – ja, daran war etwas, hätte Don Juan dazu gesagt, wenn auch mit Einschränkungen und nicht wie Casanova es sich denken mochte. Im Gegenteil, blickte man in die Gegenrichtung, so war es vielleicht zwar nicht die hässlichste unter den Frauen, die ihrerseits die Männer am heftigsten begehrte, aber die schönste höchstwahrscheinlich auch nicht. Eher schon die zweitschönste oder die drittschönste erst, in der Hoffnung, durch amouröse Tatkraft aufzuholen. Von ihr war mehr zu haben, und führte es zum Ziel, so waren Männer ja geneigt, den Vorteil einer gewissen – freilich wiederum nur optischen – Toleranz notgedrungen zu würdigen. Nicht allen, hatte Ernst O. festgestellt, ging es wie Casanova, dem die Frau als solche weniger sagte als ihre Schönheit.

Überhaupt waren es die Männer, alles in allem, die die Frauen unbändiger und ungebärdiger begehrten als die Frauen mehrheitlich die Männer, daran mochte Ernst O. nicht zweifeln. Ohnehin nur zu verständlich, war das unter anderem damit in Zusammenhang zu bringen, dass Täter für die Opfer mehr übrig hatten als gemeinhin diese für jene. Obschon eine gewisse Unklarheit darüber herrschte, ob man die Frauen immer noch als Opfer zu bezeichnen hatte oder dies jetzt nicht mehr durfte, weil man sie dadurch noch einmal dazu machte. Der Frau jedenfalls war es vertraut, dass ein Mann mit steifem Schwanz, wie de Sade sagte, weit davon entfernt war, anderen nützlich sein zu wollen. Nach getanem Tagwerk hatte er, so war es in der deutschen Sprache eingerichtet, auf sie einzugehen, und sie missverstand ihn nicht. Er musste, wenn er können sollte, sie dagegen brauchte nur zu wollen oder nicht einmal das. Und der Alptraum war, Shakespeare zufolge, erfunden worden für die Mädchen, die er drückt und lehrt, als Weiber einst die Männer zu ertragen.

Wozu diese gut sein sollten, blieb Ernst O. unerfindlich, seit die Frau ihr eigenes Auto fuhr, außer in der Rolle des Touristenführers, wie er in Marokko und Ägypten unentbehrlich war, mit dem einzigen Zweck und als einziges Mittel nämlich, die tausend anderen ihr vom Leib zu halten. Lieber einen als gleich alle! Doch anders als am Fuß der Pyramiden, die freiwillig aufgesucht wurden, war hier an der bitterbösen Lage gar keine Mitschuld des Opfers auszumachen. Geschlechterfrage hieß das, und daran war nichts gutzumachen. Da konnte die Geste des Don Juan, der wenigstens die Unterschiede ignorierte, im besten Fall nur gut gemeint sein. Und am ärgsten schien Ernst O., dass zu allem hin nun auch noch er es war, als Mann, der Trost fand. Denn einer sein, das war am Ende doch nicht ganz so schlimm wie einen haben müssen.