Ungenügende Paranoia

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.10.1999

«Das bildet sie sich ein», hörte Ernst O. kürzlich wieder einmal diesen vertraut klingenden Bescheid, und wieder war es, als stünde allein deshalb fest, dass es, da sie es ja sich einbildete, unmöglich so auch sein konnte. Auf der Erde befanden sich viele Leute in dem Glauben, die Einbildung biete in jedem Fall Gewähr dafür, dass in der Wirklichkeit nichts jemals ihr entsprechen könne. Dieser an sich erstaunliche Irrglaube konnte sich bis in die Wissenschaft hinein fortsetzen, und sogar der Tiefenpsychologe Freud hatte ihm Vorschub geleistet, mit seinem Begriff der «Projektion» etwa. Seither waren die Leute befremdet, wenn jemand, wie Ernst O. es tat, fragte, warum denn eine Projektion nicht unter Umständen durchaus zutreffend sein könne, und wäre es nur ganz zufällig. Nein, was man sich einbildete, bildete man sich bloß ein, wie manche ausdrücklich festhielten, und eine Projektion war, wenn nicht geradewegs wahnhaft, so wenigstens immer dem Sachverhalt unangemessen, wie auch die von Freud so genannten «Rationalisierungen» in jedem Fall nur falsch sein konnten und es etwas wie eine wahre Rationalisierung per definitionem nicht geben konnte. Als hätten Trauben, allein weil sie zu hoch hingen, in gar keinem Fall sauer sein können.

Der Tiefenpsychologie zum Trotz, so schien es Ernst O., verließ sich das praktische Leben darauf, dass in einer großen Zahl von Situationen die Projektionen recht zutreffend waren und die Rationalisierungen wahr, ohne dass sie deswegen aufhörten, Projektionen oder Rationalisierungen zu sein. Jedenfalls standen sie in keinem notwendigen Konflikt mit der Wirklichkeit. Wer den Staubsauger richtig bediente, konnte welche Meinung auch immer über seine Funktionsweise haben und was immer er mochte in ihn hineinprojizieren, er lief. Wäre dem nicht so, dachte Ernst O., wären das Dasein und das Fortkommen schwierig. Aber es war ja nicht so, dass der Wahn seine Systematik der Wirklichkeit entlehnt hätte, als eine Art Kehrseite gewissermaßen, so dass die Wirklichkeit ihrerseits nunmehr sich danach zu richten hätte, wie sie in diesem oder jenem Wahn wahrgenommen wurde. Der Wahn ging eigene Wege, und das Wahnhafte an ihm war nicht der zufällige Umstand seiner Unwahrheit, denn um Wahrheit oder Unwahrheit, das war ein Charakteristikum des Wahns, scherte er sich einen Dreck.

So konnte auch die Einbildung da und dort mit der Wirklichkeit durchaus vereinbar sein. Das machte verständlich, weshalb es Leute gab, die nicht nur einen Minderwertigkeitskomplex hatten, sondern diesen obendrein ganz zu Recht, und zum Beispiel genügte es nicht, paranoid zu sein, um keine Feinde zu haben. Wer überall Feinde sah, konnte trotz allem solche haben. Selbst wenn der Wahn in manchen Fällen eine rein defensive Waffe war, so konnte deren Zuverlässigkeit dennoch Grenzen haben.

Vielleicht aber, erwog Ernst O., war nicht bloß der Wahn, sondern auch die Wirklichkeit nicht in allen Teilen verständlich, und wer sie in allen Teilen verstand, verstand sie nicht so gut, wie er sich selber gern glauben machte. Wie schwer doch vielerorts auf der Erde die Leute sich taten, solche Fragen für einige Augenblicke ins Auge zu fassen, ohne sie sogleich als erledigt beiseite zu schieben! Es musste daher rühren, wenn in der Einbildung nichts als Einbildung gesehen wurde, und nicht einmal diese so, wie sie in Wirklichkeit war. War es nicht übrigens denkbar, dass auch die Wirklichkeit zu gewissen Teilen aus Einbildung bestand? Vielleicht, dachte Ernst O., bildete er sich das alles nur ein, und nichts davon entsprach der Wirklichkeit. Diese richtete sich schließlich nicht nach ihm.