Not und Undank der Hilfe

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.08.1999

Der Grundsatz, wonach alle Menschen von Natur gleich sein sollen, hat zu Missverständnissen Anlass gegeben, und die Frage, wie das zu verstehen sei, wird schon bald dreihundert Jahre hin und her gewendet. Die Menschen sind, man sieht es ihnen an, nicht gleich schlechthin. Trotzdem ist Rousseaus viel belächeltes Gleichheitspostulat unhintergehbar geblieben. Es besagt, dass keine menschenwürdige politische Ordnung den Menschen naturgegebene Unterschiede zuschreiben darf, dass Menschen nicht von Natur aus als Ungleiche gelten können.

Sie finden sich in der globalen Gemeinschaft dennoch als Ungleiche vor. Darin äußert sich Ungerechtigkeit, schreiende oft. Manche Privilegierte sehen und gestehen es ein. Sie offerieren Hilfe. Diese wird nicht mehr wie ursprünglich als eine servile Dienstleistung gegen Entgelt – oder auch ohne – von unten nach oben erbracht, sondern nunmehr karitativ von oben nach unten. Doch Hilfsbedürftigkei kommt von Benachteiligung, Wohltätigkeit stigmatisiert die Empfänger. Sie bläut ihnen ein, dass allein der Helfende im Stande ist, ihre Lage zu verändern, und – wer schließlich hat sie in diese Lage gebracht?! Sie werden ihn, selbst wenn sich ihre materiellen Lebensumstände etwas verbessern, über kurz oder lang für die ganze Misere verantwortlich machen. Sie werden vom Gebenden mehr und mehr verlangen, bald einmal als Wiedergutmachung für die Folgen vorhergehender Hilfe, und gleichzeitig werden sie sich gegen ihre zunehmende Abhängigkeit auflehnen. Leicht vergiftet das Motiv der Hilfe die Beziehung zwischen Geber und Empfänger zusätzlich. Das schlechte Gewissen, ein schlechter Ratgeber oft, stößt beim Privilegierten sauer auf, und dem Bedürftigen verrät es, dass die Hilfe die Funktion moralischer Kosmetik hat. «Ein Mensch, der Almosen empfängt, hasst seinen Wohltäter praktisch immer», schrieb George Orwell und bezeichnete das als festen Zug der menschlichen Natur.

Mündigen Menschen helfen, ohne dabei ihre Möglichkeiten zur Selbsthilfe zu erweitern, heißt ihre Bedürftigkeit zementieren. Soll man Menschen nur helfen, wenn Gewähr besteht, dass sie dadurch zur Selbsthilfe befähigt werden? Natürlich muss man ihnen oft ohnedies helfen, und nicht etwa nur einem Blinden, dessen Gebrechen nicht zu kurieren ist. Aber erstens soll man nicht glauben, dass man dadurch ihre Probleme löst. Die besorgt klingende Frage, ob das betreffende Problem auch wirklich gelöst wird, dient heute dazu, alle mit Aufwand verbundenen Versuche von vornherein als vergeblich und schon die gute Absicht als naiv zu disqualifizieren. Wo aber kämen wir hin, wenn wir, diesem hartherzigen Sparrezept folgend, uns nur mit lösbaren Problemen abgäben?

Und zweitens ist weder schlechtes Gewissen noch Pflichtgefühl hinreichend oder auch nur vonnöten: Die Hilfe, wenn sie stattfindet, findet fast immer und überall zum eigenen Nutzen statt, selbst wenn dieser nur darin bestände, dass man es gerne tut. Altruismus kann Zufriedenheit stiften und Glück, ist mit einem richtig verstandenen Utilitarismus, sogar Hedonismus, mehr als nur verträglich, denn das einzige Vergnügen, das sich nicht abnützt, ist bekanntlich – solange es einem verziehen wird – das Vergnügen, Gutes zu tun. Sogar die Evolutionstheorie auf ihrem neuesten Stand bestätigt es: auch die natürliche Selektion begünstigt kooperative und altruistische Verhaltensweisen. Vielleicht aber gehören auch die Paradoxien der Hilfe zu den vielen Problemen, die nicht um ihrer Lösbarkeit willen geschaffen wurden. Keine Vernunft hilft da weiter, denn nichts ist häufiger ohnmächtig – und hilflos – als die Vernunft.