Heiliger Krieg gegen die Kultur. Saudi-Arabiens Wahhabiten

Dieser Artikel wurde in gekürzter Fassung von der Wochenzeitung «Die Zeit» abgedruckt.

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.12.2001

Die rigide Version des sunnitischen Islam in Saudi-Arabien wird im Westen gewöhnlich als wahhabitischer Islam bezeichnet. Ihr Begründer, Scheich Muhammad ibn Abdul Wahhab ibn Sulaiman ibn Ali ibn Muhammad ibn Ahmad ibn Rashid al-Tamimi, wurde 1703 in Ayina nördlich von Riad geboren. Im Alter von zehn Jahren, so die Chronisten, hatte er den Koran auswendig gelernt. Sein Vater, ein Richter, befand ihn daraufhin für fähig, das Gebet der Gemeinde zu leiten, und im selben Jahr verheiratete er ihn. Er studierte insbesondere die Rechtsdogmatik Ahmad ibn Hanbals (780-855), des Begründers der Hanbali-Schule, und die Schriften des Hanbaliten Ibn Taimiya, der im frühen 14. Jahrhundert, nach dem Mongolensturm und der Eroberung Bagdads durch Hülegü (1258), in Syrien lehrte.

Zur Zeit des Kalifen Harun al-Rashid, der seinem Zeitgenossen Karl dem Großen zur Kaiserkrönung einen Elefanten schenkte, hatte Ibn Hanbal in der damaligen Welthauptstadt Bagdad zum Kampf aufgerufen gegen die Gelehrtenaristokratie der Mutaziliten, deren Lehre unter den Nachfolgern Haruns für zwei Jahrzehnte Staatsreligion war. Ihre rationalistische Theologie hatte nicht nur die Deutung der göttlichen Offenbarung der menschlichen Vernunft unterworfen, sondern bereits den Wortlaut des Korans menschlicher Urheberschaft zugeschrieben. Ibn Hanbal geißelte den volksfernen Intellektualismus, der zwischen Gott und seinem Wort unterschied und die Bedürfnisse eines einfachen, unanfechtbaren Glaubens nicht zu befriedigen vermochte. Für Ibn Hanbals Anhänger, die verfolgt wurden, war der Koran unerschaffen und ewig, gleichsam in einem Block vom Himmel gesandt. Menschen hatten ihm nichts hinzuzufügen. Kitab al-Tawhid sollte neunhundert Jahre später der Titel von Abdul Wahhabs wichtigstem Buch lauten, das «Buch der Einheit», das von der einfachen Natur Gottes und seiner Offenbarung handelt. Seine Anhänger, die als Wahhabi oder Wahhabiten bezeichnet werden, nennen sich selber al-Muwahhidun: die Unitarier.

Mit dem Zusammenbruch des abbasidischen Kalifats von Bagdad war die Idee der Khilafa hinfällig geworden: der rechtgläubigen weltlichen Herrschaft des Kalifen, gestützt auf den Konsens der Ulema, der Geistlichkeit. Bei Scheich al-Islam Ibn Taimiya (gest. 1328) trat nun an die Stelle der Khilafa das im Koran offenbarte göttliche Gesetz der Scharia. Dies war das zweite Element neben dem Unitarismus, das den heutigen saudi-arabischen Islam prägt.

Dazu kam Ibn Taimiyas Diagnose, dass der Islam der Abbasiden in Bagdad sich seine tödliche Schwächung durch fremde Einflüsse zugezogen hatte: durch die Logik und empirische Wissenschaft der Griechen einerseits und den Sufismus, die islamische Mystik, andererseits, in der er ein dem Islam feindliches, christliches Element sah. Es galt die Verkündigung des Propheten von allem ihr Äußerlichen zu reinigen. Da nicht nur der mittelöstliche Kulturraum vom Hellenismus und vom Christentum nachhaltig geprägt ist, sondern auch der Koran reichlich von christlichen und alttestamentarischen Motiven zehrt, war und ist das ein ungemein durchgreifendes Programm. Abdul Wahhab fand seine Gefolgschaft unter den Beduinen seiner Heimat, des Nedschd im zentralen heutigen Saudi-Arabien, wo Muhammad ibn Saud 1744 die Lehre als das Bekenntnis seines Clans übernahm.

In einem Wechselspiel von eigenen Expansionsgelüsten und Widerstand gegen die Osmanen und ihre ägyptischen Statthalter machten seine Nachfolger den Nachbarn schwer zu schaffen, überfielen 1802 Kerbela im heutigen Irak und verwüsteten die Grabmoschee Husseins, des Enkels des Propheten. Gott brauchte keine Kultstätten, sein Wort hatte zu genügen, und im selben bilderstürmerischen Furor fielen sie ein Jahr später im Hedschaz an der Rotmeerküste ein, wo sie in Mekka die Kaaba und in Medina die Grabmoschee des Propheten verwüsteten – die Heiligtümer, zu deren Beschützern sie sich im folgenden Jahrhundert aufschwangen. Die ägyptischen Heere Muhammad Alis und seines Sohnes Ibrahim Pascha benötigten sieben Jahre (1811-1818), um die fulminanten Wüstenkrieger zu bändigen und in Kooperation mit den Briten deren Führer aus der arabischen Halbinsel zu vertreiben.

Der moderne Gründerkönig Abdul Aziz ibn Saud, der 1902 seinen Clan aus dem kuwaitischen Exil zurück nach Riad gebracht hatte, fand sich wenig später rivalisierenden Clans aus Buraida und Attawiyah nördlich von Riad gegenüber, die ihm nicht nur die Vorherrschaft über den Nedsch, sondern auch Abdul Wahhabs geistliches Erbe strittig machten. Die Ikhwan oder Brüder, wie sich ihre Krieger nannten, hielten denkbar wenig von dem modernen Staat, der Ibn Saud vorschwebte. Während er sich an ihre Spitze zu setzen und ihren Radikalismus zu bezähmen suchte, indem er ihn für sich selbst in Anspruch nahm, lieferten sie ihm lange Jahre Schlachten, was ihn bei der Verwirklichung seiner weiter reichenden Pläne aufhielt. Als er 1932 das Königreich Saudi-Arabien ausrief, waren ihm die verblieben Rivalen durch seine multiplen Eheschließungen verpflichtet, genauso das geistliche Establishment.

Seitdem verlaufen die Fronten im Inneren der Königssippschaft, wo Unzufriedenheit mit der wahhabitischen Führungsspitze wiederum nur im Namen der reinen Lehre Abdul Wahhabs auftreten kann. In ihrem Namen erschoss 1975 ein Neffe König Faisal.

Khomeini auf dem persischen Untergrund des Kulturlandes Iran hätte Vergleichbares nie zustande bringen können. Doch Abdul Wahhabs Lehre aus der Wüste behauptete in mancher Hinsicht ihre Reinheit. Nicht nur gegen fremden kulturellen Einfluss, das heißt vor allem gegen säkulare Wissenschaft auf heiligem Boden. Der 1999 verstorbene Abdul Aziz ibn Baz, führender Geistlicher des Landes, Oberhaupt der Ulema, Großmufti und lange Jahre Rektor der Universität Medina, hatte 1966 Kopernikus verdammt und sich für das geozentrische Weltbild ausgesprochen. Die Lehre, die die Frauen vom Lenkrad verbannt, Alkohol, Tabak und in konservativeren Landstrichen auch Gesang, Parfüm und Blumentöpfe verbietet, richtet sich genauso unerbittlich gegen das kulturelle Erbe des islamischen Orients, dessen Charakteristikum und Substanz seine Vielfalt ist. Es brauchen nicht Buddha-Skulpturen zu sein: Für die Wahhabi gibt es keinen Islam außer ihrem.

Trotzdem sollten die Ikhwan, ermutigt von königlich bestallten Geistlichen wie Ibn Baz, wiederkehren. Während der Pilgerfahrt von 1979 brachten sie für zwei Wochen die Große Moschee in Mekka in ihre Gewalt. Die Bin-Laden-Familie, deren größte Baufirma im Mittleren Osten die heiligen Stätten restaurierte, hatte bei der Stürmung mitzuwirken. Fest verankert im royalistischen Establishment, teilt sie das Schicksal der Königsfamilie, nimmt es vielleicht vorweg. In Saudi-Arabien liegt man nicht miteinander, sondern mit sich selbst im Clinch.

Die Ikhwan aber sandte man von nun an als Mujaheddin nach Afghanistan, seit den internen Auseinandersetzungen um das amerikanische Engagement im Golfkrieg vermehrt. Dort – wie bereits in Pakistans Koranschulen – hat Abdul Wahhabs Lehre inzwischen über Saudi-Arabien hinausgegriffen, unter den Zehntausenden von ägyptischen, sudanesischen, algerischen und anderen arabischen Freiwilligen auch an arabischem Boden gewonnen.