Die unendliche Befreiung

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.02.1998

Man meint, die Äste müßten sich biegen unter der Last. Es sind viele, prangend rot, so viele, wie sich an einem Apfelbaum Äpfel anbringen lassen. Aber es ist ein starker haitianischer Baum, auf dem Höhepunkt seiner Kraft, und die Äste finden jeder den ihm eigenen Weg, so daß sie mit ihren Früchten das Bild ausfüllen. Links vom schlanken Stamm kniet, als erwarte er einen Schuldspruch, Adam, der kleinere und schmächtigere des Paares. Rechts steht Eva, die ihm mit ihrer rechten Hand den Apfel hinstreckt. In ihrer Linken, auf ihrem festen Oberschenkel, wartet bereits das Feigenblatt und zeigt mit der Spitze auf Adam. Den Blick hat sie nicht auf ihn gerichtet. Als hätte sie um die Gegenwart des Zuschauers schon vorher gewußt, schaut sie heraus aus dem Bild und erwidert dessen Blick. In ihrem Antlitz ist nichts von Scham. Das Bewußtsein ihrer Unwiderstehlichkeit – oder bloß Unentbehrlichkeit? – scheint sie weniger mit Stolz zu erfüllen als mit einer gewissen Geringschätzung für den Gefährten. Fern davon, ihr das Vergnügen aus dem Gesicht zu vertreiben, zuckt in ihren Mundwinkeln unverkennbarer Spott.

Ob Eva es ist, die aus diesem Gemälde blickt, oder der Maler – auch «der allerboshafteste Mann wird niemals über die Frauen so viel Gutes und Böses sagen, wie sie selber von sich denken», schrieb Balzac. Doch für einmal ist dieser gängige Gesichtspunkt von untergeordneter Bedeutung, und man sollte sich nicht ablenken lassen. Das Gemälde hängt im Hotelzimmer genau wie in den Wohnzimmern von Pétionville, den Häusern der Oberschicht, die sich in den etwas frischeren Hügeln über der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince niedergelassen hat. Unten in der brütenden Stadt findet sich der Apfelbaum ebenfalls, bestimmt auch in Büroräumen. Er ist Teil der berühmten Fresken in der Cathédrale Ste Trinité, wo Adam und Eva die Feigenblätter schon tragen, ehe sie zugelangt haben. Zwar gibt es Apfelbäume in Haiti nur auf Gemälden, was übrigens auch für das Eichhörnchen, den Löwen und die meisten anderen Tiere gilt, die sich im haitianischen Paradies harmonisch um Eva und Adam scharen. Aus dem Bild und seiner variantenreichen Allgegenwart zu schließen, muß es sich bei der dargestellten Szene aber dennoch um einen Vorfall handeln, der sich nur wiederholen kann.

Im Dunstkreis der Karibik war schon von allerhand Paradiesen die Rede. Dort, in dem warmen Meer, liegt Hispaniola, Kubas Nachbarinsel und die zweitgrößte der Großen Antillen, zu denen außerdem Jamaica und Puerto Rico zählen. Warum hätte nicht – einst, bevor Kolumbus am 6. Dezember 1492 dort landete – auf Hispaniola der biblische Garten Eden mitsamt seinen Apfelbäumen gelegen? Wir werden rasch genug auf diese Frage zurückkommen. Bereits mit dem Sündenfall jedoch kommt der Erdboden, der verfluchte, ins Spiel, und ist es erst einmal soweit, führen Sündenfälle bekanntlich, besonders im Wiederholungsfall, unter diesen hinab, in die Hölle. Das Paradies aber sollte im Gedächtnis behalten, wer sich in Haitis Höllen umsieht. Denn nicht bei jeder Hölle nimmt ihre Geschichte den Ausgang von einem Paradies, und es kann sein, daß in diesem Unterschied ein besonderes Verhängnis liegt.

Ein Besucher Haitis ist in der Regel vorgewarnt. Es empfangen ihn einprägsame Bilder, noch ehe er den Fuß auf den Boden des Landes setzt. Wer im Düsenjet über der Karibik unterwegs ist, dem soll die Insel mit ihren gestaffelten Kordillerenzügen, die sich schroff auf Höhen von bis zu 2600 Meter erheben, wie ein zerknülltes Stück Papier erscheinen, das auf dem Ozean treibt. Aus der geringen Flughöhe der zwölfplätzigen Propellermaschine von «Bavaro Sunflight» betrachtet, die täglich zwischen Santo Domingo im Südosten der Insel und Port-au-Prince im Westen verkehrt, zeigen die Verhältnisse bereits die Komplexität des menschlichen Daseins. Bei der Ankunft wird sofort sichtbar sein, daß die Menschen nicht die gleichen sind: in der Dominikanischen Republik sind sie zu drei Vierteln recht helle Mulatten, in Haiti zu drei Vierteln Schwarze. Aber schon aus der Luft ist von bloßem Auge zu erkennen, daß Hispaniola in zwei Staaten geteilt ist, und mit Genauigkeit ist anzugeben, wann das Flugzug die Dominikanische Republik hinter sich läßt und in Haitis Luftraum eintritt. Von Horizont zu Horizont zieht sich die Grenze über die zerschründete Landschaft, eine Linie buchstäblich, wie man sie sonst nur von Landkarten mit ihren verschiedenfarbigen Ländern kennt. Die Grenze verläuft zwischen einem verwaschenen Grün und einem fleckigen Graubraun.

Im grünen östlichen Nachbarland sind, Weiden eingeschlossen, über achtzig Prozent der Fläche landwirtschaftlich nutzbar. Im graubraunen Haiti, wo die Bevölkerungsdichte um gut die Hälfte höher ist, sind es nur rund fünfzig Prozent. Hispaniola, etwas kleiner als die Insel Irland oder als Österreich, war bis in unser Jahrhundert von tropischem Urwald bedeckt. Auch von den fünf Achteln der Insel, welche die Dominikanische Republik belegt, sind heute nur noch zwölf Prozent Wald. Von Haitis Fläche sind es weniger als zwei Prozent. Die Folge ist eine Erosion, durch die in entwaldeten Hanglagen jährlich 10’000 bis 15’000 Hektar Agrarland verloren gehen.

Es muß mit der erbarmungslosen Beschaffenheit des Landes zu tun haben, daß die Elendsviertel nördlich des Hafens von Port-au-Prince förmlich ins Meer hinaus schwimmen. Die Hauptader von Cité Soleil verläuft in der Verlängerung der Startbahn des internationalen Flughafens, und ein kleines Stück weit folgen die Hüttenreihen den donnernden Maschinen über den Köpfen, hinaus in die Karibische See, wohl in Richtung Miami, ehe sie zwischen einigen grauen Segelbooten mit geknickten Masten im Wasser versinken. In Wirklichkeit folgen Cité Soleil und Cité La Saline dem Müll, dessen dampfende Haufen sich aus den Hauptstraßen der Hauptstadt in die Baie de Port-au-Prince hinausschieben. Haiti ist ein ökologisches Desaster, die Verschmutzung der Umwelt ist nicht nur ein Problem der Kapitale. Während in Port-au-Prince zehn Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, sind es außerhalb der Hauptstadt nur mehr drei Prozent. Schon zu Beginn der neunziger Jahre lebten noch höchstens zwei Drittel der sieben bis acht Millionen Haitianer auf dem Land. Mindestens eine Million lebt im Ausland, vielleicht 0,7 Millionen in den USA und 0,3 Millionen in der Dominikanischen Republik. Die Bevölkerung von Port-au-Prince ist auf gegen zwei Millionen gewachsen. In den drei Jahren der Militärherrschaft nach dem Putsch vom September 1991 ist die Agrarproduktion des Landes, während Haitis gesamtes Wirtschaftsvolumen um rund ein Viertel schrumpfte, um gegen vierzig Prozent zurückgegangen. Das mittlere Jahreseinkommen, das 1990 auf 325 Dollar geschätzt wurde, ist auf 200 Dollar gesunken, auf unter 100 Dollar auf dem Land, wo die ärmere Bevölkerungshälfte weniger als ein Prozent des Bodens besitzt. Haiti, mit Abstand das ärmste Land westlich des Atlantiks, ist heute wohl eines der zwanzig ärmsten Ländern der Welt: 150 Kilometer vor der Küste der USA.

Nachdem 20’000 US-amerikanische Soldaten die mörderische Herrschaft der haitianischen Militärs über das ausgeblutete Land gebrochen haben, wird Haiti seit dem 15. Oktober 1994 wieder von gewählten Politikern regiert, falls man denn sagen kann, es werde regiert. Die Rückkehr unter eine zivile Staatsführung hat bis heute keine Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung gebracht, im Gegenteil, und was die Moral auf einen zuvor unbekannten Tiefpunkt gebracht hat: Seit der amerikanischen Intervention hat Haiti, wofür die schwarze Nation in Westindien während zweier Jahrhunderte gekämpft und gelitten hat, nämlich Demokratie. Gebracht hat sie nichts, die Verelendung schreitet voran. Für die fünf Jahre von 1995 bis 1999 hat die internationale Gebergemeinschaft dem Land Hilfe im Umfang von 2,5 Milliarden Dollar zugesagt, mehr als die schwache Wirtschaft zu absorbieren vermag. Doch die haitianischen Politiker paralysieren mit ihren nimmermüden Intrigen die Institutionen und blockieren damit auch die Ausschüttung der Hilfe. Der Inselstaat, im 18. Jahrhundert einst die reichste Überseebesitzung des vorrevolutionären Frankreich und ganz Europas, muß heute achtzig Prozent seiner Nahrungsmittel importieren, seit 1977 sogar Zucker, einst die Basis seines Reichtums.

Könnte es sein, daß diese haitianische Art von Hölle nur dadurch erklärbar wird, daß sie gewollt ist? Man trifft Entwicklungshelfer, die mit Illusionen, falls sie solche hegten, aufgeräumt haben. Es gibt, sagt einer von ihnen, in Haiti keine relevante politische Kraft, die eine Entwicklung dieses Landes wünscht. Im Gegenteil, es gibt nur Kräfte, die ebendies nicht wünschen. Bis Jean- Betrand Aristide 1994 ihre Abschaffung durchsetzte, gab es eine Armee, die den Sinn ihrer Existenz in der Bereicherung ihrer selbst erblickte und vor allem das ungesetzliche Geschäft, den Schmuggel und den Drogenhandel, monopolisiert hatte. Die tödliche Gewalt der Militärs ist vorläufig aus der Politik verschwunden und in der gemeinen Kriminalität aufgegangen, die in jüngster Zeit sprunghaft anstieg. Aber in einer Hinsicht scheint das Vorbild der Armee für das Selbstverständnis des Politikerstandes maßgebend geblieben zu sein: Macht bedeutet rasche Mehrung des persönlichen Wohlstandes. Während der öffentliche Haushalt zu siebzig Prozent mit Hilfsgeldern bestritten wird, liegt die merkantile Macht bei einem halben Dutzend Familien, die im Außenhandel traditionsreiche Monopole behaupten, an jedem eingeführten Sack Reis und an jeder ausgeführten Kokosnuß verdienen. Ganz alleine könnten sich diese Familien auch in Haiti nicht halten, und so bewacht an den Hängen von Pétionville privat angeheuertes Sicherheitspersonal mit automatischen Gewehren den Luxus einer Oberschicht von etwa einem Prozent der Bevölkerung, in deren Besitz sich rund die Hälfte aller Vermögenswerte im Land befinden. Diese Oberschicht ist Haiti, soweit das Land sich politisch Ausdruck verschafft und einen Willen artikuliert.

Das Böse ist nicht wegzudenken aus der Welt; so versichert André Pierre, der große Maler, Vaudou-Priester, Theologe und Philosoph. «Sans le mal il n’y a pas le jugement», sagt er, ohne das Böse gibt es kein Gericht. Ohne das Gute allerdings auch nicht, wäre anzufügen, und Haitis Oberschicht prägt ein Bewußtsein, wonach eine Emanzipation der breiten haitianischen Bevölkerung sich keinesfalls mit dem Fortbestand ihres eigenen Pardieses vereinbaren läßt. Die politische Reaktion und Repression bediente sich stets derselben Propagandaformel, wonach die ungebildeten Massen, wenn erst einmal die Zügel gelockert würden, sich nur unverzüglich gegen die Elite wenden und diese im Blut ertränken könnten. Bei der breiten Bevölkerung auf der anderen Seite bleibt die Idee einer vollen Rechtsgleichheit aller Staatsbürger abstrakt, auch zehn Jahre nachdem sie in der Verfassung von 1987 verankert worden ist.

Erklärungen dafür müssen in den drei Jahrhunderten zu suchen sein, die den letzten zehn Jahren vorausgingen. Was wir in der Rückschau mehrmals antreffen werden, ist ein Paradies, und dies nicht in Gestalt bloßer Verheißungen, sondern einer Wirklichkeit, welche über die Geschicke auf der Erde bestimmen sollte, ähnlich wie der fatale Baum in Eden. Haiti kann uns davon überzeugen, daß ein Paradies nur zu einem Zweck geschaffen sein kann, zum Zweck des Sündenfalls. Und im Falle der haitianischen Wirklichkeit, die Anschauungsmaterial für mehr als nur ein Inferno bietet, hat die Hölle vielleicht tatsächlich etwas von einer Zufluchtstätte, wie George Bernard Shaw sagte, von einem «Ort des Unwirklichen und der Glücksucher», der Vaudou-Priester, der Phantasten und Revolutionäre, der Dichter und Maler – einer «Zufluchtstätte für diejenigen», so Shaw, «die aus dem Himmel flüchten, der Heimat für die Herren der Wirklichkeit, und für diejenigigen, die von der Erde flüchten, der Heimat für die Sklaven der Wirklichkeit.»

  1. Dezember 1492 – das Datum wurde schon erwähnt: An der nördlichen Küste landet Kolumbus, in einer Bucht, die er zur Feier des Tages Santo Nicolas tauft. Der Insel, in der Sprache der Eingeborenen Ayti, «Bergiges Land», gibt er den Namen Hispaniola: «die Spanische», und er erklärt sie zum Besitz der Krone Isabellas der Katholischen von Kastilien. Zur Bevölkerung um 1492 gibt die Literatur Zahlen von einer Viertelmillion und bis zu einer ganzen Million und noch mehr. Die friedfertigen Arrawak, die Fremde zu fürchten gewohnt waren, setzten aus ebendiesem Grund anfangs gewisse Hoffnungen in den neuen, diesmal ganz unbekannten Zuzug. Verbündete wären ihnen willkommen gewesen, sie litten unter den Raubzügen der kriegerischen Kariben von den kleinen Antillen. Diese werden zu den Menschenfressern gezählt, die im folgenden Jahrhundert Montaigne mit Verweis auf europäische Barbareien verteidigen wird.

  2. Der Eintritt der Karibik in die Geschichte der Neuzeit begann mit den folgenreichen Schilderungen eines Paradieses, mit denen Kolumbus in den fünfzehn auf seine Entdeckung folgenden Jahren rund 10’000 Spanier zum Aufbruch über den Atlantik bewog. Nur etwa doppelt so lange allerdings sollte dieses erste lateinamerikanische Dorado dauern, ehe die Minen erschöpft, die Landwirtschaft über dem Goldrausch vollständig vernachlässigt und die spanischen Kolonen den Conquistadores nachgereist waren – ab 1511 nach Kuba, ab 1515 nach Mexiko, 1531 Peru, 1535 Argentinien, 1540 Chile und so fort. Vielleicht muß man daran erinnern, daß um 1600 die zweitgrößte Stadt der Welt nach London Potosi war, das spanische Silberminenzentrum in Bolivien. Von den Arrawak Hispaniolas, welche eingeschleppte Krankheiten und die mörderischen Bedingungen im Bergbau zu Hunderttausenden dahinrafften, waren schon fünfzig Jahre nach der spanischen Entdeckung gerade noch einige hundert übrig. Auf Betreiben der missionierenden Orden fanden sich diese nunmehr so raren Exoten in den Stand freier Spanier erhoben, während Karl V 1519 die erste Lizenz zur Einfuhr afrikanischer Sklaven erteilte. Von der ersten spanischen Kolonie blieb eine unbedeutende Besitzung von einigen tausend Pflanzern, denen Kolumbus das von den Kanaren mitgebrachte Zuckerrohr hinterlassen hatte. Doch noch 1600 kamen neunzig Prozent des in Europa konsumierten Zuckers aus Brasilien.

    Es dauerte annährend zwei Jahrhunderte, bis Hispaniola wieder zu Weltrang aufstieg. In der Zwischenzeit hatte sich auf dem weniger wirtlichen Westteil der Insel eine neue Spezies von Einwanderern niedergelassen. «Ein mit dem Blut der Tiere, die sie auf der Jagd erlegten, gefärbtes Hemd, eine noch schmutzigere Leinwandhose, die wie ein Brauerschurz gemacht war, statt eines Gürtels ein Riemen, an welchem ein sehr kurzer Säbel nebst einigen Messern hing, ein Hut ohne andern Rand als vorne einen heruntergeschlagenen Zipfel, um ihn anfassen zu können, Schuhe ohne Strümpfe, so war der Anzug dieser Barbaren beschaffen. Ihr Ehrgeiz bestand darin, Flinten zu haben, die zwei Lot schwere Kugeln schossen, und eine Koppel von fünfundzwanzig bis dreißig Hunden.» So beschreibt sie im späten 18. Jahrhundert Abbé Raynal in seiner Histoire des deux Indes, dem im vorrevolutionären Frankreich scharf zensurierten Bestseller, dessen sechs bis zehnbändige in Genf, Amsterdam, Den Haag verlegten Ausgaben in enzyklopädischer Breite die unerschöpfliche Vielfalt der Verbrechen des Abendlandes in Afrika und in der neuen Welt anprangern. Diese neuen Bewohner Hispaniolas hießen die Bukaniere, und ihre Aufgabe bestand im Unterhalt logistischer Basen für die Flibustiere, die französischen Piraten der Karibik. Dazu jagten sie die entlaufene Nachkommenschaft der Rinder, welche die Spanier einst auf die Insel gebracht hatten. Von Seefahrern, denen sie auch die Häute verkauften, wurden die Bukaniere mit Personal versorgt: «Leute, die sich in Europa verkauften, um drei Jahre lang als Sklaven in den Kolonien zu dienen, und die man Engagierte nannte.»

    Frankreich anerkannte die Seßhaften unter diesen Freibeutern 1665 als Untertanen und sandte ihnen einen Gouverneur. «Es reisten», so Raynal, «auch Frauenleute mit ihm ab, die, wie die meisten unter denjenigen, die man zu verschiednen Zeiten nach der neuen Welt geschickt hat, bloß durch ihre Unzucht bekannt waren. Die Bukaniere beleidigten diese Fehler nicht.» Im Frieden von Rijswijk schließlich trat Spanien 1697 den Westteil der Insel an Frankreich ab, und damit war in den Grenzen des heutigen Haiti die französische Kolonie Saint-Domingue formell ins Dasein getreten.

    Mit ihrem Territorium von zwei Dritteln der Fläche der Schweiz sollte die Heimat der Bukaniere binnen fünfzig Jahren zur produktivsten und einträglichsten europäischen Überseebesitzung aller Zeiten werden. Am Vorabend der Revolution entfallen vom gesamten Außenhandel Frankreichs zwei Drittel auf Saint-Domingue. Die Besitzung erbringt die Hälfte der globalen Kaffeeproduktion, und ihre Zuckerproduktion gibt Frankreich ebenfalls Kontrolle über den Weltmarkt. Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, daß Frankreich 1763, nach seiner Niederlage im Siebenjährigen Krieg, zugunsten seiner karibischen Besitzungen Kanada an England abtritt. Im transatlantischen Verkehr zwischen der Kolonie und den französischen Atlantikhäfen Bordeaux, Nantes und La Rochelle sind auf 750 Schiffen 80’000 Seeleute beschäftigt.

    Die Bevölkerung von Saint-Domingue 1789: etwas mehr als 30’000 Weiße, eine etwas kleinere Zahl von freien Mulatten (sogenannte Affranchis) und nicht ganz eine halbe Million schwarze Sklaven. Die Differenz zwischen Mulatten und Schwarzen ist eine soziale Größe geblieben. Nèg rich sé mulât, mulât pov sé nèg, ein reicher Neger ist ein Mulatte, ein armer Mulatte ist ein Neger, sagt ein Spruch in der haitianischen Kreolsprache. Bis zu 30’000 Afrikaner pro Jahr wurden seit Mitte des 18. Jahrhunderts nach Haiti gebracht, bereits bis 1770 etwa 800’000, insgesamt wohl deutlich über eine Million. Die galoppierende Sterblichkeit, die die Geburtenrate weit unter sich ließ, sorgte für den hohen Nachschubbedarf und für ein äußerst lukratives Geschäft der Menschenhändler.

    So alt wie die Sklaverei ist der Widerstand gegen sie. Die Behandlung der Afrikaner spottete jeder Beschreibung. Das Register der Körperstrafen umfaßte Verstümmelungen aller Art, und Todesurteile wurden auf grausamste Weise vollstreckt; Sklaven wurden ertränkt, bei lebendigem Leib verbrannt, mit gebrochenen Knochen auf Räder geflochten, lebendig begraben. Als Mittel der Abschreckung gegen Suizid wurden auch die Leichen von Selbstmördern verstümmelt, was seine Wirkung tat, da im Glauben vieler Afrikaner die Toten zu ihrem Stamm zurückkehrten. Die einzige praktikable Form des Widerstandes war die Flucht, und schon im 16. Jahrhundert bildeten sich erste Gemeinschaften von marrons, wie man die entlaufenen Sklaven nannte. Haitis unwegsame Bergwelt bot ihnen Unterschlupf. Die informellen Gemeinschaften der marrons waren auch die Heimat des Vaudou, dieser Kreuzung von Naturreligion afrikanischer Abkunft und politischem Geheimbund, die den Sklavenaufständen im Zug der Französischen Revolution den Boden bereitete und im politischen Leben Haitis bis in die neueste Zeit der Tyrannei François Duvaliers eine so prominente Rolle spielte.

    1789: Auf der Karibikinsel eröffnete das Datum des großen Umbruchs im Mutterland Frankreich die endlose Ära einer besonderen Kontinuität, die sich einzig durch ihr Gegenteil auszeichnet: Nichts sollte nach 1789 noch währen, es seien denn jene Kräfte des Wandels, die stets dasselbe Resultat zeitigten: den permanenten Zusammenbruch einer unhaltbaren Ordnung. Es ist zu fürchten, daß auf die ersten zwei Jahrhunderte dieser haitianischen Moderne ein drittes folgt. Denn in seinem Manuel d’histoire d’Haïti, welches das historische Wissen der Nation kanonisiert hat, schreibt J.-C. Dorsainvil, das Datum markiere «den Beginn einer Revolution, die noch andauert».

    Die Revolution, die bis heute zu keinem Ende gekommen ist, nahm in Haiti ihren Anfang mit einer ganz empfindlichen Autoritätseinbuße der Pariser Kolonialbehörde gegenüber den weißen Pflanzern. Deren Sinn stand seit längerem nach erweiterter Autonomie und insbesondere einer Befreiung des Handels von den französischen Staatsmonopolen. Die Unabhängigkeitsbestrebungen unter den Grundbesitzern erhielten Auftrieb dadurch, daß die revolutionären Kräfte im französischen Nationalkonvent schon bald nach dem Sturm auf die Bastille das Schreckgespenst nicht nur der Abschaffung der Sklaverei, sondern obendrein einer Gleichstellung der Rassen an die Wand zu malen begann. Es schien, als könnten Haitis reiche Weiße nur in eigener Regie solchen Aussichten vorbauen, und erwartungsgemäß bezogen sie Stellung gegen die Konstituante in Paris, als diese im Mai 1791 die Gleichberechtigung der Affranchis, der freien Farbigen, proklamierte.

    Den Mulatten ihrerseits wie ebenso einigen angehenden Führern der Sklaven waren die einschneidenden Veränderungen in der politischen Großwetterlage nicht entgangen. Im August 1791 kam es in der Plaine du Nord zum offenen Aufstand der Sklaven, während zugleich die Mulatten von Port-au-Prince rebellierten. Die Pflanzer, die so hart als möglich zurückschlugen, brachten die Situation nicht mehr unter Kontrolle, und im folgenden Jahr wandten sich die Truppen des nunmehr republikanischen Mutterlandes gegen die abtrünnigen Kolonen und Konterrevolutionäre, statt gegen die revoltierenden Mulatten und Schwarzen, deren Unterstützung sie teils genossen. Nach der französischen Kriegserklärung an England und Spanien von 1793 traten auf Hispaniola aufständische und entlaufene Sklaven in großen Scharen in den Dienst der spanischen Nachbarn, wodurch die jakobinischen Kommissare in Saint- Domingue sich genötigt fanden, die Sklaverei abzuschaffen. Man schrieb den 29. August 1793.

    In den folgenden Jahren der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Spaniern und Engländern und des Bürgerkriegs zwischen Mulatten und Schwarzen tat sich ein Mann hervor, als dessen Vermächtnis die erste befreite Kolonie der modernen Geschichte – von den USA abgesehen – betrachtet wird: François Dominique Toussaint Louverture. Der ehemalige Sklave, der von den Franzosen zum höchsten Heerführer und schließlich zum Gouverneur gemacht worden war, trat Napoleon als ein charismatischer Volksführer gegenüber, der zwar auf die französische Fahne schwor, 1801 aber eigenmächtig eine Verfassung für Saint-Domingue in Kraft gesetzt hatte, die Frankreich lediglich eine formale Oberhoheit ließ. Toussaint hatte Macht: die Franzosen hatten an seine Soldaten 30’000 Gewehre verteilt.

    Zum Jahresbeginn 1802 näherten sich auf 86 Schiffen 22’000 französische Soldaten der Kolonie. Sie wurden von verheerenden Feuersbrünsten empfangen, die über die Zuckerrohrfelder fegten und die preisgegebenen Städte in Asche legten. Der Expeditionsarmee unter Napoleons Schwager Charles-Victor-Emmanuel Leclerc gelang es, Toussaint Louverture gefangenzusetzen und nach seiner Deportation die Macht in Saint-Domingue für kurze Zeit zurückzuerobern. Doch die so zahlenstarken Invasoren, die mit dem Auftrag gekommen waren, die Sklaverei wieder einzuführen, fanden sich in der Folge durch eine unbezwingbare Guerilla im Verein mit einer Gelbfieberepidemie schwer dezimiert, so daß sie im November 1803, zu allem hin auch noch von einer britischen Flotteneineinheit am Horizont bedroht, das Weite suchten. Die schwarzen Generäle unter Führung Dessalines riefen am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit aus und gaben dem Land den alten Namen Haïti zurück. Die meisten der zurückgebliebenen Franzosen wurden in den folgenden Monaten massakriert.

    Die Nachkommen der marrons, der entlaufenen Sklaven, hatten, in ihren autarken Lebensformen in den Bergen lange genug geschult, hatten die Oberhand behalten. Der marronage, der Ausbruch aus einer Welt, die nicht verändert, sondern nur aufgegeben werden kann, blieb in der Geschichte Haitis das bestimmende Modell. Insbesondere alles, was das Land an jemals an Reichtümern hergeben sollte, suchte bis heute das Weite. Marronage, so könnte man mit etwas Zynismus sagen, ist auch der Wichtigste Zweig von Haitis gegenwärtiger Wirtschaft: die Überweisungen der Exilhaitianer bilden die einzige legale Devisenquelle von Gewicht.

    Doch es geht nicht nur um Jahrhunderte der Absetzung ins äußere Exil, die in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Aufbrüchen Zehntausender von Boat People in Richtung Florida neue Höhepunkte erreichte. In Haiti kommt ein prägendes Element hinzu: Inseln fördern bei ihren Bewohnern, wie Aubert de la Rüe in seiner Monographie L’homme et les îles schreibt, «ein sehr lebhaftes Gefühl von Freiheit», vielleicht als Reaktion auf klaustrophobische Anwandlungen der Insulaner, die auf ihrem wohlumgrenzten Stück Land festsitzen. In ihrer besonderen Immobilität, so de la Rüe weiter, bilden sie ein mißtrauisches, reserviertes Naturell aus und einen Geist, der in seiner Eigenheit und seinen markanten Empfindlichkeiten gern auch Chimären gebärt. So zwingen Inseln, indem sie die Flucht erschweren, zum Erfindertum, zur Flucht nicht nur nach draußen, sondern zu allerhand Fluchten nach oben und unten, empor in hochgewölbte Überwelten und hinab in abgründig verwinkelte Unterwelten. Sie zwingen zur Flucht nach innen zu den Quellen der Inspiration und hinaus in die weiten Räume der Fiktion, des Phantastischen.

    In übertragener Bedeutung wurde marron in unserer Zeit zum Titel dessen, der einem nicht exakt bezeichneten Metier nachgeht, einem unrechtmäßigen meistens, dem weitere zweideutige Attribute verliehen werden. Ebenso klingt im Wort marronage immer etwas von einem Ausbruch in eine zweite, andersgeartete Welt, mit eigenen Regeln, außerhalb dieser wirklichen, offiziell sanktionierten Welt, die ehedem die gemeinsame Heimstätte aller war. Auch die haitianischen Chimären mögen Fabelgestalten sein, aber sie sind mehr als bloße Gespinste, sie sind mit Sicherheit mächtiger. Die spirituelle Welt des Vaudou, der im Maquis der marrons die französische Kolonisation überdauert hat, sorgt für durchlässigere Grenzen der materiellen Welt, und seine Geister ergreifen Besitz nicht nur von den Seelen der praktizierenden Anhänger des Kults. Wo die Wirklichkeit nicht genügen kann, wo der Erdboden – ganz nach dem Wortlaut der Bibel – verflucht ist, entsteht Kultur, entsteht in Haiti das wirklich Wunderbare. Es ist nicht nur das Reich der haitianischen Literatur und Kunst, es ist das Reich jenes in jedem Sinn überwältigenden Erdendaseins, welches die karibische Sinnlichkeit beschert. Es ist, mit dem wunderbaren Wort des Kubaners Alejo Carpentier, das Reich von dieser Welt.

    Für eine Erholung Haitis allerdings war, trotz der Befreiung, dieses Reich nicht eingerichtet. Der Preis dieser Unabhängigkeit war so hoch, der Kampf darum dermaßen blutig verlaufen, daß das Exempel bei den Nachbarn im karibischen Raum nicht als Vorbild, sondern als Abschreckung wirkte. Gemäß den Schätzungen hat das Land in den Kriegsjahren von 1791 bis 1804 gegen ein Drittel seiner Bevölkerung verloren, von den Eliten einen noch wesentlich größeren Anteil. Für den Fremdkörper in einer Umgebung sklavenhaltender Gesellschaften war Unabhängigkeit, deren internationale Anerkennung noch in weiter Ferne lag, bis auf weiteres gleichbedeutend mit Isolation. Frankreich, wo man die Pläne einer Wiedergewinnung des Kolonialbesitzes nicht aufgegeben hatten, stellte 1825 für eine Abfindung von 150 Millionen Francs Frieden in Aussicht, und obschon dieser Betrag später auf 60 Millionen herabgesetzt wurde, trug Haiti bis spät ins letzte Jahrhundert an dieser Schuld.

    Wenig nach den Kolonisten waren die produktiven Plantagen verschwunden. Die schwarzen Nachfolger der weißen Grundbesitzer wirtschafteten ineffizient. 1818 stand die Zuckerproduktion bei fünf Prozent des Ausstoßes von 1791. Soweit der Boden verteilt worden war, stagnierte er in kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft, und dies bis heute. Nachdem in den Blütezeiten die Wirtschaft vollständig auf den Export ausgerichtet war, blieb die Idee einer infrastrukturellen Erschließung des Hinterlandes als Bedingung von Entwicklung bis heute fremd. Der Kontakt zur Außenwelt beschränkte sich weitgehend auf einen Handel, dessen Vertreter wie auch die Güter sich nie weit von den Hafenmolen entfernten.

    Drei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung stand Haiti unter zwei rivalisierenden Herrschern und weitere drei Jahre später unter deren drei, bis das Land 1820 wieder vereint war. Bis zur amerikanischen Invasion von 1915 wurden von fünfundzwanzig Regierungen 17 gewaltsam aus dem Amt entfernt, und auch die amerikanische Okkupation, die bis 1934 andauerte, hinterließ keine Stabilität. In Verhältnissen, in denen Reichtum nirgendwo auf produktivem Weg, sondern stets nur durch Plünderung zustande kam, blieb der Staat deren herausragendes Vehikel.

    Ansätze politischer Stabilität konnten in Haitis Geschichte nur Friedhofsruhe bedeuten, und Baron Samedi, der Herr über die Friedhöfe, ist der prominenteste nicht nur unter den Gottheiten des Vaudou, sondern auch im Kreis von Haitis 41 ehemaligen Staatsoberhäuptern. Den Titel trug Doktor François Duvalier, «Papa Doc», der das Vater Unser auf seine Person umschrieb und, belehrt durch eineinhalb Jahrhunderte der Militärdiktatoren, in einer einzigen Nacht achthundert Offiziere füsilieren ließ. Seine politische Sonderpolizei der Tonton Macoutes – der «Onkel mit den Säcken», welche die unfolgsamen Kinder mitnehmen – ermordete von seinem Amtsantritt im September 1957 bis zu seinem Tod im April 1971 zwischen 30’000 und 60’000 «politische Gegner», schätzt Walther Bernecker in seinem Abriß Kleine Geschichte Haitis. Bei dreizehneinhalb Amtsjahren ergibt dies einen Tagesdurchschnitt von sechs bis zwölf.

    Tout moun sé moun: wir alle sind Menschen, war Jean-Bertrand Aristides Versprechen im Wahlkampf von 1990, den der Armenpriester so überlegen dominierte. Seit dem Februar 1996, der Trennung von seinem Amt, das gemäß der Verfassung keine zweite direkt auf die erste folgende Amtszeit erlaubt, hat sich der erste frei und fair gewählte Präsident auf Sabotage verlegt. Mit der Macht, die ihm hinter den Kulissen blieb, ist er sein Volk und die Welt davon zu überzeugen bemüht, daß allein er Haiti zu regieren im Stande ist. Der Heiland, der schon 1991, nach seinem ersten Antritt, Ansätze zu einem überzeugenden Zukunftsprojekt vermissen ließ, hat sich damit an die Spitze der Kräfte gestellt, deren höchstes Anliegen im Beweis besteht, daß in Haiti Aspirationen auf Rechtsstaat und Demokratie Flausen sind. Haiti wollte oder mußte stets höher hinaus: Wieder und wieder geriet das Land unter den durchschlagenden Einfluß von Leuten, die das Land zu ihrem Paradies auserkoren, um auf der Stelle von sämtlichen Bäumen die verbotenen Früchte zu brechen. Frankétienne, der Dramatiker, Schriftsteller und Maler, muß wissen, wovon er spricht. Unweit von Arstides riesigem Anwesen hat er vor einigen Jahren zuerst eine hohe, mit Scherben und Stacheldraht garnierte Mauer ringsherum gebaut und dann dahinter sein Haus. «Haiti», so sagt er, «hat sich des Feuers der Freiheit bemächtigt, indem die Sklaverei und das damalige Kolonialsystem gestürzt wurden. Die siegreiche Erhebung der Neger von Saint- Domingue wurde als unvergeßlicher Schlag ins Gesicht der westlichen weißen Welt empfunden.» Frankétienne sieht in dieser Überschreitung den Kern eines wahrhaften Prometheus-Epos, und tatsächlich wurde die Unabhängigkeit Haitis von den Mächten jener Zeit als eine Anomalie, als eine Art Geschwür, ein Abszess, betrachtet. «Man hat uns», fährt Frankétienne fort, «für unsere Freiheit teuer bezahlen lassen, natürlich mit der Beihilfe einheimischer Eliten. Das haitianische Volk zahlt noch immer. Wie Prometheus ist es dazu verdammt worden, sich von einem Adler die Eingeweide zerfetzen zu lassen. Die Geschichte steht unter dem Gesetz der griechischen Tragödie. Was hier» – im Reich von dieser Welt – «am Werk ist, ist das antike Verhängnis, jenes Schicksal, dessen Siegel seine Unerbittlichkeit ist, und so wissen immer alle Beteiligten im voraus, daß alles nur im Blut enden kann.»