Graham Greene. Der Treibstoff der Einbildungskraft

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.12.2000

«Sie mögen sich selbst also nicht...»
Nein, aber wie viele Leute mögen sich schon, wenn sie ein wenig darüber nachdenken? Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut, das ist wahr. Ich halte das nicht für einen Makel. Ausserdem, wie kann man sich überhaupt wohl fühlen in seiner Haut?
Conversations

Ginge es um das Ansehen des Spionagethrillers, seinen Rang im Kanon des literarischen Bildungsgutes, dann könnte man ohne zu zögern sagen, dass keiner ihm so grosse Dienste erwiesen hat wie Graham Greene. Doch der Spionagethriller lebt nicht vom Ansehen, so wenig als wie der Verrat, das Geheimnis, die Liebe, der Hass oder das Leben selbst. Dass Greene das Genre zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Dissertationen befördert hat, ist sein geringstes Verdienst, das er gewiss und gerne den zuständigen akademischen Institutionen abgetreten hätte. Wenn Greene nebenbei auch der Sekundärliteratur zu neuen Ehren verholfen hat, dann auf anderem Weg. Sein Werk von 28 Romanen, acht Theaterstücken, vier Bänden Short stories und mehreren Kinderbüchern begleiten zwei autobiografische Versuche, A Sort of Life (1971) und Ways of Escape (1980), ein halbes Dutzend Sammlungen von Essays und Briefen, vier grosse Reiseberichte, die über seine Methodik der Recherche Auskunft geben, ein Band Conversations (1981), geführt und zu Papier gebracht von der französischen Kritikerin Marie-Françoise Allain, und zuletzt das Traumtagebuch A World of My Own (1992). Ein vollständiges Verzeichnis von Greenes Buchpublikationen umfasst über 60 Titel. Wenige Schriftstellerlaufbahnen des Jahrhunderts – Greene wurde 1904 in Berkhamsted, Hertfordshire, geboren und starb 1991 in Vevey am Genfersee – sind so umfassend und aufschlussreich dokumentiert. Hinzu kommen die Schriftsteller und Journalisten unter Greenes Romanhelden, die den Prozess und die Berufsgeheimnisse des Schreibens in vielfältiger, ganz unaufdringlicher Weise immer wieder thematisieren.

Den Spionagethriller brauchte Greene nicht zu erfinden, der Erste Weltkrieg hatte die Vorbilder lanciert: die Romane Erskin Childers und John Buchans. Mit W.Somerset Maughams Alter ego Ashenden – Of Human Bondage (1915) – war auch schon der Antiheld des Agentenmilieus geboren, der menschliche, unheroische Protagonist im Kampf nicht gegen einen Feind, den er nie zu Gesicht bekommt, sondern gegen die Routine und Langeweile des Spionagemetiers. Sogar noch Greenes Meistersatire auf das Milieu der Geheimdienste, Our Man in Havana (1958), an die John le Carrés letztes Buch The Tailor of Panama (1996) anknüpft, hatte bereits einen frühen, nicht minder boshaften Vorgänger in Joseph Conrads The Secret Agent (1907).

Nichtsdestoweniger war Greene, vielleicht einem Alfred Hitchcock und im eigenen Metier sicher Raymond Chandler verwandt, ein unerschrockener Neuerer. Er trug entscheidend dazu bei, eine Schriftstellergeneration von einer Menge formaler Schulweisheit und erzähltechnischem Aberglauben zu befreien. Es geht um Stichworte wie Authentizität oder Wirklichkeitstreue, Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit, um die kausale Natur der Handlung – Stichworte, die sich scheinbar unauflöslich zu jenem Großmissverständnis namens «Realismus» verknoten.

Glaubwürdigkeit, so geht die geläufige Mär, verlange Wirklichkeitstreue, und diese verlange ein akribisch ausgestaltetes Milieu authentischer Details. Wahr daran ist, dass das Detail tatsächlich nicht unglaubwürdig sein sollte. Doch was für die Glaubwürdigkeit einer Passage einsteht, ist nicht die Detailfülle einer endlos langweiligen englischen Jagdszene John Buchans', es ist im Gegenteil das sparsam und unscheinbar eingesetzte authentische Detail: zum Beispiel der Drink, der nicht nur professionell, sondern überdies mit einer Prise einschlägiger Feierlichkeit gemixt wird, denn Authentizität ist vielleicht weniger ein Resultat von getreuer Wiedergabe als von Suggestion. Glaubwürdigkeit wiederum steht nicht im Dienst der Wahrscheinlichkeit, vielmehr erlaubt sie ungestrafte Unwahrscheinlichkeit und so stößt sich der Leser so wenig wie Greene am unwahrscheinlichen Umstand, dass D. in The Confidential Agent (1939) statt mit seinem Geschäftspartner zuerst ganz zufällig mit dessen Tochter und einer Reihe anderer involvierter Gestalten Bekanntschaft macht. Ein Netz von Fügungen mag seine phantasmagorischen Züge mehr schlecht als recht verbergen, wichtig ist seine Übersichtlichkeit und Stringenz. Die Wirklichkeit nämlich, darauf hat auch Hitchcock wiederholt hingewiesen, wirkt in getreuer Wiedergabe weder wahrscheinlich noch glaubwürdig, sondern überspannt und gesucht und gleichzeitig sehr inkohärent.

Wirklichkeitstreue, so die naive Mär weiter, verlange Anschaulichkeit, Sichtbarkeit. Greene in Conversations: «Wenn ich einen Roman lese und alle diese Einzelheiten im Gedächtnis behalten soll – sie ist rothaarig, hat eine lange Nase, trägt ihr Haar so und so usw. –, so geht mir das auf die Nerven. Ich überlasse es lieber dem Leser, sich sein eigenes Bild zu machen, so dass er nicht fürchten muss zu vergessen, ob die Haare der Romanfigur glatt oder kraus sind...» Wir atmen das Ambiente einer vollgepferchten Gefängniszelle in der südmexikanischen Provinz Tabasco, einer Leprastation am Kongo, einer Opiumfumerie in Saigon und sehen dabei nicht viel mehr als im Wiener Abwasserkanal von The Third Man (1950). Querry, Castle, Plarr, Greenes Hauptfiguren sehen wir nie ins Gesicht. Ein volles Bild kann der Handlung nur den Atem und dem Schauplatz den spiritus loci austreiben, und was die Imagination des Lesers beflügelt, ist das spartanische Regime der visuellen Elemente.

Wie sehen wir die wirkliche Welt, während wir darin agieren? In ihrer vollen Detailfülle? «Schwer zu sagen», sagt Greene in Conversations auf die Frage, ob er seine Romanwelten in Farbe sehe: «Mir ist bewusst, dass ich in Farbe geträumt habe, wenn ich mich an die Farben erinnere. Daraus schließe ich, dass die anderen Träume wahrscheinlich in Schwarzweiß waren. Aber wer weiß es?... Ich sehe die Welt in Schwarz und Weiß, denke ich, mit ein paar Farbflecken da und dort.» So sieht er auf dem Kongo – In Search of a Character (1961) – «eine Familie in einer Piroge: das leuchtend gelbe Kleid der Mutter, und das Mädchen, ein Baby auf dem Schoß, lächelt wie ein offenes Klavier». (Greene, der 1935-1940 Filmkritiker beim «Spectator» war, hatte schon als Zwanzigjähriger, noch in der Stummfilmzeit, als Herausgeber der Zeitung «Oxford Outlook» Filmkritiken geschrieben.)

Bereits in John Buchans The Three Hostages (1924) plaudert Dr. Greenslade ein Geheimnis aus: «...also fange ich damit an, dass ich zwei oder drei Tatsachen festlege, die scheinbar nicht miteinander im Zusammenhang stehen...» Nach bald hundert Jahren der Detektivgeschichte war dies nichts Neues. Das zentrale Problem in der Romankunst ist, wie Jorge Luis Borges schrieb, die Kausalität. Borges (Discusión, 1932) unterschied zwischen zweierlei Vorgängen, dem natürlichen, uferlosen der physikalischen Abfolge von Ursachen und Wirkungen, der in der Literatur nur der «psychologischen Vortäuschung» dienen kann, und einem Vorgang anderer Art, der den Verlauf der Erzählung zu steuern hat: ein magischer Prozess, «bei dem die Einzelheiten weissagen» wie «ein prophetisch zerspringender Spiegel».

«Meinen Glauben in den Zufall werde ich nie verlieren, Henry», sagt Bendrix in The End of the Affair (1951), und Bendrix spricht nicht nur als der Ich-Erzähler des Romans, sondern ist von Beruf zufällig Schriftsteller. Doch sein Bekenntnis kommt gegen den Lauf der Dinge nicht an, wird auf der Stelle Lügen gestraft. Die Zufälle konspirieren, arbeiten sich reihum in die Hände, und die Oberhand behält «das törichte Zeitungswort, das die Alternative zum Wort «Zufall» liefert: das «Wunder». «Ein Wunder gleicht sehr einem Verbrechen», sagt der Polizeioffizier in The Honorary Consul (1973), beides verletzt die Regeln, und wie das Verbrechen hat das Wunder es an sich, dass es selten alleine kommt. Wer hätte schon zu hoffen gewagt, dass es sich dabei meist um eine freudige Überraschung handeln müsste! «Die hatten nicht vor, Sie zu kidnappen. Ich hatte nicht vor, ein Kind zu machen», sagt Dr. Plarr ebenda. «Nichts ist jemals, was wir beabsichtigt haben.» Der Autor dagegen hat nichts außer seiner Absicht, und der Thriller, vielleicht liegt darin ein Trost, ist weder eine wirklichkeitsgetreue noch auch nur eine wirklichkeitsähnliche Konstruktion.

Auch Greene, der 65 Jahre lang Bücher publizierte, erwarb seine Meisterschaft nicht im Schlaf. Noch der vierte Roman, Orient Express (1932, in der britischen Originalausgabe Stamboul Train), der Durchbruch des 28jährigen, ist ein Kompendium technischer Stümpereien, mit dem sich Kurse bestreiten ließen. Nicht das simpelste Geräusch kommt passabel zu Papier, und bei einer Autofahrt etwa, bei der es außer zu Vollgas bloß noch zu Glatteis reicht, ist der literarische Totalschaden absehbar. Greene selber sollte später über seine «Jugendromane» das «Entsetzen» packen – «voller Metaphern, die ich ihrer Ausgefallenheit wegen wählte...», blickt er in Conversations zurück. «Es gibt nichts Schlimmeres als poetische Prosa», und mit diesem Verdikt ist wahrlich noch das Beste daraus gemacht. Solche Kinderkrankheiten, die Greenes Erfolg keinen Abbruch taten, werfen ein Licht auf den Entwicklungsstand des Genres in den dreißiger Jahren und auf die herausragende Stellung der frühen Werke Eric Amblers.

In den Büchern seiner mittleren Jahre hat Greene die Eierschalen seiner irregeleiteten stilistischen Ambitionen abgestreift; er selber verweist auf The End of the Affair und The Quiet American (1955) als Zeugnisse sprachlicher Reife. Evelyn Waugh in einer Besprechung bezeichnete schon die Sprache von The Heart oft he Matter (1948) als «grim» – als eisig, unerbittlich. «Die Wörter sind funktional, ohne sinnliche Attraktion, ohne Stammbaum, ohne Eigenleben... Ein polyglotter Leser könnte, nachdem er Greenes Buch beiseite gelegt hat, alles, was er gesagt hat, genau im Gedächtnis behalten und, glaube ich, trotzdem vollständig vergessen, in welcher Sprache er es gelesen hat.»

Weder dass Greene um wirksame Metaphern und Vergleiche verlegen wäre, noch dass es ihm dabei immer am Mut eines Chandler fehlte: «Das Unglück» – in A Burnt-Out Case (1960) im Kongo – «ist wie ein hungriges Tier, das am Straßenrand auf jedes beliebige Opfer lauert.» «Hauptmann Segura» – in Our Man in Havana – «rang sich ein Lächeln ab. Es schien aus der falschen Stelle zu kommen, wie Zahnpasta, wenn die Tube ein Leck hat.» «Auf der Anrichte» – im Londoner Zwischenspiel ebenda – «stand ein Wensleydale-Käse, und die Ruhe von Albany umgab sie wie hoher Schnee.» Der Tonton Macoute, der haitianische Sicherheitspolizist in The Comedians (1966), «mit seinem großen Bauch und den Goldzähnen» trägt im Gesicht «ein starres Grinsen wie ein Affe bei der Einlieferung in einen Zoo». «Aber ich habe Teresa nie in der Revue gesehen», gibt Wormold, der «Mann in Havanna», zu bedenken. «Vermutlich hat sie dort einen anderen Namen.» – «Sie können sie doch von anderen unterscheiden, oder», entgegnet Beatrice, seine Sekretärin, «auch wenn sie nichts anhat? Obwohl ich vermute, nackt sehen wir uns alle ein bisschen ähnlich, wie die Japaner.» Aber das alles steht im Einklang mit der Beobachtung Waughs.

Wenn Waugh zudem Greenes Charaktere allesamt als völlig «charmless» erscheinen, dann lässt sich dieser Befund zunächst mit einem Grundmotiv Eric Amblers assoziieren: dem Drama des anständigen, unbescholtenen Bürgers, dessen eigener Anteil nichts als seine glanzlose Menschlichkeit ist, wenn er sich von dieser Welt des Verbrechens in ausweglose Verwicklungen verstricken lässt. Den Beziehungen, die Greene zu seinen Romanfiguren sucht, könnte Charme oft nur im Weg stehen. Um diese Beziehungen geht es. «Ein Buch» – heißt es in The Human Factor (1978) – «ist wie ein sandiger Pfad, der die Spuren von Schritten festhält.» Die Schritte – die Handlung, der Plot – stehen nich für sich selbst. Querry, der in die kongolesische Leprastation entflohene Stararchitekt, sagt in A Burnt-Out Case: «Materialien sind für einen Architekten, was die Handlung für einen Schriftsteller ist... Das Thema eines Romans ist nicht die Handlung.» Der Architekt hat sich «für Raum, Licht und Proportion» interessiert, für neue Materialien «nur wegen der Wirkung, die sie auf diese drei Dinge haben können». Die drei Dinge sind, für den Schriftsteller Greene wie für den klassischen Metaphysiker, die Welt, Gott und – im Schnittpunkt – die Seele oder, zeitgemäßer gesprochen, die Charaktere.

«Ich kenne das aus meiner Erfahrung sehr genau, dass ich nur eine sehr untergeordnete und beiläufige Figur einer realen Person nachbilden kann», so Greene in Ways of Escape. «Eine wirkliche Gestalt steht der Imagination im Weg. Vielleicht lässt sich eine Ausdrucksweise, ein physiognomischer Zug verwenden, aber ich kann kaum einige Seiten schreiben, ohne festzustellen, dass ich über die Gestalt einfach nicht genug weiß, selbst wenn es ein alter Freund ist. Bei einem imaginierten Charakter bin ich sicher – ich weiß, dass Doctor Percival in The The Human Factor für die Malerei von Ben Nicholson schwärmt, ich weiß, dass Colonel Daintry, wenn er vom Begräbnis seines Arbeitskollegen zurück ist, eine Büchse Sardinen öffnen wird.»

Um nichts weniger hat Greene Gewicht gelegt auf die Selbständigkeit, den eigenen Willen seiner Helden und betont, dass er, hat er sie einmal in die Welt gesetzt, wenig über ihre Geschicke vermag. Die hohe Kunst des Romanautors besteht darin, «zu zeigen, wie sich Personen wandeln...», sich mit dem Lauf der Ereignisse weiterentwickeln, und als sein Meisterwerk unter diesem Aspekt betrachtete Greene The Honorary Consul. «Am Ende des Romans sind sie alle» – der Arzt, der Konsul, der Priester – «andere Menschen geworden.» Haben wir einen der unwahrscheinlichen, da uns so fremden, aber um nichts weniger glaubwürdigen Charaktere vor Augen wie den Mestizen in The Power and the Glory (1940), dann haben wir Nachsicht mit einer leicht überhöhten Beteuerung Greenes, wie Waugh sie zitiert: «Diese Gestalten sind nicht meine Schöpfungen, sondern Gottes. ... Sie spielen nicht bloß eine Rolle zur Unterhaltung des Lesers. Es sind Seelen, für deren Errettung Christus gestorben ist.»

Und wenn wir nicht dereinst im Himmel mit ihnen zusammentreffen, so führen uns ihre «Schritte auf dem sandigen Pfad» durch «Greeneland» – wie Kritiker die Szenerien Greenes etwas maliziös genannt haben – doch an den Rand dieser Welt. In The Human Factor geht es darum, ob im Agentenmetier die Liebe oder der Hass der gefährlichere Störfaktor ist, und diese Fragestellung, die sich recht weltlich verstehen lässt, gibt ein Beispiel dafür, wie der Spionagethriller als Vehikel zu Grundfragen der menschlichen Existenz vordringt – zur Liebe in ihren Fesseln der Bedürftigkeit, des Mitleids und des Sakraments der Ehe. In The Heart of the Matter spitzt sich diese Tragik zu: Um der Erlösung zweier Frauen willen, die ihn lieben, bringt Scobie sich um, und der strenggläubige Katholik offeriert damit Gott seine ewige Verdammnis. Im Spiel ist auch hier nebst dem theologischen scandalon die weltgeschichtliche Frage, ob böse Taten gute Folgen haben können. Der «Whisky-Priester» in The Power and the Glory ist schwächer als seine Trunksucht, und außerdem hat er ein Kind gezeugt. Er versagt sich den Umgang mit den Sakramenten nur deshalb nicht, weil die revolutionäre Verfolgung in Tabasco keinen zweiten Geistlichen übriggelassen hat; und weil er einem sterbenden Mörder den letzten Beistand nicht verweigern kann, geht er nach seiner glücklichen Flucht über die Grenze zurück in den sicheren Tod. Unter seinen Versuchen zur katholischen Moraltheologie – zu erwähnen ist Brighton Rock (1938) – war es diese dramatische Parabel, die – mit zehnjähriger Verspätung, wie der Erfolg des Buches – im Vatikan für Aufregung sorgte, Greene eine Verdammung durch das Heilige Offizium und in der Folge eine Audienz bei Papst Paul VI. eintrug.

Über Greenes Leidenschaft für das Böse hat man sich oft mokiert und, früher häufiger noch, empört. Vermutlich ist ein Grund dafür die breite Präsenz des Unterleibes: Die Ehefrau des bigotten Rycker, die eine von dessen jüngeren Töchtern hätte sein können, «wusste, dass alles gutgehen konnte, wenn er in diesem Stadium zum Einnehmen einer Schlaftablette gebracht werden konnte; dann würde er wahrscheinlich bewusstlos, ehe er bei der Religion anlangte, die wie ein Torbogen in einem Rotlichtbezirk unabänderlich zum Sex führte» (A Burnt-Out Case). Hinsichtlich der Ehe und ihres Kreuzes ließ sich Greenes verzweigte Biografie im Werk nieder. Und was wäre die Literatur ohne den Freudenmarkt.

Doch die exigence des Bösen tyrannisiert die Opfer – und Täter – auf mehreren Niveaus. Im Motto von The Heart of the Matter, einem Zitat von Charles Péguy, heißt es: «Nul n'est aussi compétent que le pécheur en matière de chrétienté.» In einer Kritik im «New Yorker» (1948) sah George Orwell Greenes obsessive Pflege des Sünders als Snobismus Baudelaireschen Erbes. Wer an die Hölle tatsächlich glaube, rügte er, der erfreue sich nicht so leicht seiner graziösen Tanzfiguren am Rand ihres Abgrundes. Im Namen christlicher Bescheidenheit polemisiert Orwell gegen «die Idee, dass etwas Distinguiertes darin liegt, verdammt zu sein; die Hölle ist» – bei Greene – «eine Art Erstklassnachtclub, wo der Eintritt Katholiken vorbehalten ist, da die anderen, die Nichtkatholiken, zu ignorant sind, als dass sie für schuldig befunden werden könnten». (Viel halsbrecherische Logik spukt durch die Debatten um den Nouveau théologien, der damals vor allem in Frankreich en vogue war und den etwa auch François Mauriac verkörperte: Nur wer sündigen kann, kann ein Christ sein, und deshalb kann nur, wer ein Christ ist, sündigen; oder – nach demselben Typ von Schlussfolgerung – nur was weiß ist, kann ein Schwan sein, und deshalb kann nur, was ein Schwan ist, weiß sein.) Greenes Motiv demgegenüber war die Unausdenkbarkeit ewiger Verdammnis, die Unhaltbarkeit einer beim Wort genommenen Hölle, deren Existenz er die Inexistenz Gottes wohl vorgezogen hätte.

Greenes Spionagethriller sind von seinen anderen, zumal den als «katholisch» apostrophierten Romanen nicht zu trennen, weil es Greene in der Welt der Geheimdienste wie anderswo weniger um die Geheimnisse geht als um Grundfragen des Politischen, um die conditio humana, genauso übrigens im unvergesslichen Kriminalroman The Third Man aus dem Nachkriegs-Wien der vier Mächte, dessen Verfilmung mit Orson Wells als Harry Lime bis heute in jedem Videoladen zu haben ist. Eines von Greenes zentralen Motiven blieb – bis ins Polen des Kardinals Wyszyński – die Konfrontation von Katholizismus und Kommunismus, die in diesem Jahrhundert beträchtliche Teile des Globus geprägt hat. (Greene hatte als 19jähriger einige Wochen der kommunistischen Partei angehört und war mit 22 in die katholische Kirche eingetreten.)

William Golding sah in Greene «a class by himself»: «Man wird ihn lesen und im Gedächtnis behalten als die höchste Autorität unter den Chronisten des Bewusstseins und der Sorgen der Menschen unseres Jahrhunderts.» Wenn sein Engagement oft als das eines «Linksintellektuellen» bezeichnet worden ist, so hat dieses Attribut vielleicht innerhalb des katholischen Spektrums seine Berechtigung, während Greene, der mit liberalen Ideen in der Tat nicht sehr viel anzufangen wusste, ein durchaus konservativer Geist blieb. Auch Konservative können für die Entrechteten Partei ergreifen. Sein Engagement war das eines nachsichtigen Priesters, welcher der Kirche nicht die Partei gegenüberstellt, wie die Figur des Leutnants in The Power and the Glory beweist, sondern humanere Visionen eines Katholizismus, um die skandalösen Schrecken von dessen Lehren zu bannen.

Was die Vermutung Waughs in seiner Kritik unter dem Titel Felix Culpa? angeht, wonach nur Katholiken die Verwerfungen und Schluchten «Greenelands» auszuloten vermögen, so markieren Schuld und Unschuld keine exklusive Domäne der katholischen, beichtenden Gemeinde: Jedermann kann sich einfühlen in die hellsichtige Furcht Fowlers, des Ich-Erzählers von The Quiet American, einem von Greenes Meisterwerken. Er warnt vor Pyle, eben dem «Stillen Amerikaner», der im bestgemeinten Einsatz für Recht, Demokratie und Freiheit eine obskure vietnamesische Guerrilla unterstützt, die wenig später auf einem belebten Platz von Saigon eine Bombe zünden wird: «Man kann die Arglosen nicht tadeln, denn sie sind stets unschuldig. Man kann sie nur zügeln oder ausmerzen. Unschuld ist eine Form von Wahnsinn.» Bemerkungen dieser Art, die isoliert im Zitat den getragenen Ton von Lehrsätzen einer Anti-Moraltheologie annehmen, bewegen sich im Greeneschen Erzählfluss wie Fische durch ein reißendes Gewässer, streifen nur ganz flüchtig die Oberfläche der bewussten Wahrnehmung – wie in A Burnt-Out Case: «Sie ist ein armes, unschuldiges junges...», sagt die Ordensschwester Agnes von der zwanzigjährigen Marie Rycker. Und Querry, fälschlicherweise beschuldigt, sie geschwängert zu haben, kurz bevor er vom rasenden Ehemann Rycker, der sich an seinen Zeugungsakt im Suff nicht erinnern kann, erschossen wird: «Oh, unschuldig... Da haben Sie wohl recht. Gott schütze uns vor aller Unschuld. Die Schuldigen wissen wenigstens, was sie tun.»

Georg Brunold, stv. Chefredaktor bei «du» seit 1996, lebt in Zürich.