Fünf - vier - drei - zwei - eins - Angstlust

Editorial zum Heft: Angstlust. Das Leben. Ein Thriller

Von Georg Brunold. Zeitschrift du, 01.06.2000

Fünf - vier - drei - zwei - eins - und schon wieder – jetzt wieder! – ist alles Vergangenheit. Der Pilot ist durch den Aufprall aus der Maschine geschleudert und ins Spital gebracht worden. "Vor noch nicht allzu langer Zeit", sagt der Psychiater O.M., der jetzt schon auf die Fünfzig zugeht, "hatte ein Zwanzigjähriger noch eine Vorstellung davon, wie er als Grossvater leben würde." In der Vergangenheit war es diese selbst, die Herkunft, worin eine zureichende Antwort auf die Frage nach unserer Identität gesucht wurde. Von Angst war die Frage ihrer Natur gemäss immer begleitet. Wer sind wir? Da steht so gut wie alles in Frage ausser der Aktualität des altehrwürdigen Rätsels. Inzwischen rast ein jeder von uns – wer bin ich jetzt? – und wer jetzt?! – dahin wie ein Derwisch im Inneren der Windhose, fast als gäbe es schon heute nur noch Manager, und während unsere Hyperbeschleunigung uns von unserer Sicherheit eigentlich etwas nehmen müsste, bewirkt die Blindheit, mit der sie uns schlägt, oft nur das Gegenteil. Je besser die Aussichten, desto härter müssen wir ran, oder aber: je mehr uns das Gerät zu entgleiten droht, desto brutaler schlagen wir zu. Das Schicksal jedenfalls haben wir gestellt, noch ehe es sich an uns heranmacht, denn etwas anderes hat es niemals vorgehabt.

Zwar kann man vom Leben nicht sagen, alles in allem sei es von Generation zu Generation nur schwerer und schwieriger geworden. Aber einfacher deshalb nicht. Die Ansprüche – sowohl des Lebens wie die ans Leben – wachsen, rasanter als wir dies von uns, von unseren Begabungen und Tugenden behaupten können. Und die Angst bleibt, in uns wie um uns herum. Verlangen wir nicht förmlich danach und finden daran Lust? Wir konstatieren eine expansive Passion für mutwillig aufgesuchte Extremsituationen, eine sich ständig diversifizierende Kultur von Hochrisikosportarten, Snowboarding senkrecht, Canyoning kopfüber, Skilaufen hoch am Himmel, tiefe, ganz erfolglose Sprünge an einem dehnbaren Seil bis hin zu jenem Seitensprung, der nur ungeschützt zum Ziel führen kann. Deckt uns das Leben nicht mit genügend echten Sorgen ein ? Suchen wir Ersatz für die naturwüchsige Herausforderung, die eine umfassend versicherte Existenz uns vorenthält? Der Bauplan des "Dramas in drei Akten, das wir als die... Struktur aller 'thrills' entdeckten", findet sich in Michael Balints Standardwerk Angstlust und Regression: Das "gewöhnliche Schema ist dies, dass das Individuum durch einen Trieb oder äusseren Reiz veranlasst wird, die sichere Zone des ruhigen Daseins aufzugeben, sich mehr oder weniger freiwillig Situationen auszusetzen, die seine innere Spannung unvermeidlich steigern müssen, in der Hoffnung, seine Fähigkeiten werden es ihm erlauben, diese Situation zu geniessen, die Spannung durch Befriedigung seiner Bedürfnisse zu lösen, so dass es schliesslich unversehrt in die Sicherheit der ruhigen Daseinsweise werde zurückkehren können.

"Mehr oder weniger freiwillig": Wir werden, heisst das, nicht durch äusseren Zwang in solche Situationen geworfen, nicht von wilden Tieren, Feuer im Haus oder unserem Vorgesetzten gejagt. Im weiteren hat der freie Wille, wie man weiss, es in sich, und was unser Heft zum Thema Thrill – auf Psychologendeutsch Angstlust - angeht, warnt der Psychiater O.M. vor der, wie er glaubt, starken Versuchung, in der Lust die treibende Kraft zu sehen und uns von ihr hinwegtragen zu lassen. Ein Angstgeilheitsreisser mit soundso vielen Facetten, fürchtet er, würde dem Thema nicht ganz gerecht. Der passionierte Grenzgänger suche nicht vordringlich nach dem neuesten Vehikel zum Lustgewinn, sondern die Auseinandersetzung mit seiner Angst, deren Bewältigung ihm durchaus eine existenzielle Notwendigkeit sei. Ist demnach, was wir beobachten, eine steigende Konjunktur mehr der Angst als der Lust? Als er studierte, sagt O.M., sei die Angststörung noch nicht wie heute eine diagnostische Kategorie gewesen. Erst seit etwa fünfzehn Jahren findet man dank der neuen Wünschelrute vermehrt, wonach man suche. Daraus ist, so O.M., nicht umstandslos zu schliessen, dass im Vergleich mit früheren Zeiten die Angststörungen grassieren. Vielleicht habe man sie nicht als solche wahrgenommen. Heute wird auf breiter psychotherapeutischer und psychopharamzeutischer Front einem ganzen Katalog von Phobien der Kampf angesagt, und wen nicht der Befund, so ist immerhin die Behandlung eine Symptom desselben gesellschaftlichen Wandels, der sich in einer zunehmend risikofreudigen Freizeitkultur auslebt.

Aus der Fernsehfictionwelt hören wir mindestens halbminütlich Schüsse. Das Mengenverhältnis zwischen den TV-Salven und den Salben, die wir in unserer Lebenszeit leibhaftig vor der Haustür hören, ist vergleichbar nur mit dem Verhältnis zwischen der Zahl von Gegenständen, worüber ein Zeitgenosse seine entschiedene Meinung hat, und dem, was er über jeden der fraglichen Gegenstände tatsächlich weiss, nämlich so gut wie nichts. Die Informationsgesellschaft diversifiziert die Gegenstände unserer Aufmerksamkeit wie die Titel im Aktienfonds, vermutlich in der vagen Hoffnung, dass wir, die wir schon über ein einziges Ding nicht alles wissen könne, nicht von sämtlichen Dingen gleichermassen überhaupt nichts wissen.

Die Versuchung, von der wirklichen Welt – und von sich selber – ab und zu einen befristeten Urlaub zu nehmen, fand verständlicherweise zu jeder Zeit Wege, ihre Unwiderstehlichkeit unter Beweis zu stellen. In unserer Zeit ist es umgekehrt die Alltagswelt, die sich zusehends aus der bisher bekannten und gelebten Wirklichkeit verabschiedet: erstens die Partnerschaft aus dem Bund (einem Sakrament) fürs Lebens, zweitens die Erziehung der Kinder (eine Tortur) aus dem Schoss der Familie, drittens die Karriere (unser treuer Rosenkranz) aus der sozialen Sicherheit, viertens die Arbeit am Bildschirm (dem virtuellen Gefängnis, das sich hinter unserem Rücken geschlossen hat) aus der alten Welt von Personen und handgreiflichen Objekten. Das ist doch schon einiges, bemerkt mehrmals auch O.M., der Psychiater.

Die Freizeit, Repertoire an Befreiungsschlägen, hat mit dem Ernst des Lebens Schritt zu halten. Der konventionelle Alkoholrausch, der traditionelle Männerabend mit gemeinschaftlichem Bordellbesuch oder später vor dreissig Jahren die psychedelische Bewusstseins-, wie es hiess, -erweiterung, das gehört alles in eine Zeit relativ passiver Formen der Himmelsstürmerei. Bloss eine wackere Trance und ein eingeweihtes Lächeln genügen uns nicht mehr. Die menschliche Existenz – nicht erst die Börse – ist ein Teilgebiet der Ballistik, und Adrenalin, wir hatten es vergessen, ist gratis. Das körpereigene Pharmakombinat sorgt vor, der Endorphinrausch ist zudem ein höchstpersönlicher Eigenmix, nüchtern bleibt niemand ausser im Nirwana. Die Krise dagegen, betont O.M., in der wir, man hört es schon am Wort, auf dem Hochseil, im Wildwasser, im überhängenden Fels nichts mehr als funktionieren, endlich perfekt und ideal, über, ja nur dank dem Abgrund – die erbarmungslos arrangierte Krise, die von uns alles und das Letzte, den Einsatz unseres Lebens, fordert, sie katapultiert uns hoch und empor ans funkelnde Gestirn wahrhafter Euphorie. Überlegungen dagegen, Erörterungen, Ab- und Wiedererwägung und hin und her und auf und ab, vor und zurück – welch unerhört träge Masse, recht eigentlich ein Sumpf und Morast, wo wir uns nicht wie am Gleitschirm über der Sonne zu bewegen wissen. Extremsituationen aber lassen nichts übrig, sagt O.M., von Fragen wie: schaffe ich es oder schaffe ich es vielleicht nicht. Da bleibt keine Unsicherheit, keine Angst, kaum Bewusstsein noch, nur Schwerelosigkeit unvermischt, ein einziges und nahezu besinnungsloses Glück jenseits letzter Illusionen. Die Grenzerfahrung ist Erfahrung von action und reaction pure, Befreiung von jedem Gedanken und jedem anderen Moment von Hemmung, Einhalt oder, wie Psychologen sagen, Triebstau.

Was sollte diese Freizeit inspirieren, wenn nicht der zeitgemässe Alltag? Dort hängt jeder von uns zuoberst in der Kuppel am Trapez, an den Zähnen völlig unfreiwillig, ja einige, wie O.M. anfügt, überfällt die Bodenlosigkeit schon auf offener Strasse, aus dem heiteren Himmel ihres tiefsten Innern, ganz ohne Grund und Netz, nur Angst, schneeweiss und mit Herzfrequenz 180. In solch exponierter Lage ist soziale Verantwortung nicht mehr ein flächendeckendes Modell. Wir sind und entscheiden endlich autonom, und der Zwang dazu forciert die ehedem schon weit fortgeschrittene Individualisierung. Jeder ist selber und alleine schuld. Zwar ist das Leben, wie Freund sagt, ein Umweg zum Tod, führt als nicht direktenwegs zu ihm. Doch da wir dereinst mit ihm allein sein werden, klopfen wir mit dem Blumenstrauss unserer neu gewonnenen Freiheiten vorsorglich bei ihm an, um ihm sogleich unseren Privatvertrag zur Zeichnung vorzulegen. Nur auf die Spitze getrieben verspricht die Einsamkeit, in der viele – und offenbar immer mehr – sich vorfinden, Aufschluss auf die Frage, was mit der Welt und ihnen los ist.

Nicht erst seit gestern mögen sich manche unter uns wie Akrobaten fühlen. Doch obwohl wir alles noch Ausstehende im Leben vorgeholt haben und die Leute je jünger heutzutage, desto älter sind, ist alles an uns restlos antiquiert. Zwar ist hier wie dort – auf Trampolin, Schiffschaukel und New Market – die Geschwindigkeit des Lichts überall und stets dieselbe, aber ein Lunapark gibt uns noch keine angemessene Vorstellung von World Wide Web und New Economy, eine Achterbahn ist eine vergleichsweise erprobte Einrichtung. Allein noch die Steinzeit ist jung und neu. Die gesamte Schöpfung unverbraucht zu unseren Füssen, die Zukunft ein einziges Versprechen und noch so gut wie nichts Vergangenheit. Nur Mut, keine Angst, und nichts wie los! Wer seiner Zeit immer nur voraus ist, den holt sie einmal ein: fünf - vier -drei - zwei - eins - fünf - vier - drei - zwei - eins - fünf -