Gesucht Europas Oberhoheit

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 17.08.2012

Und noch immer ist der Ausweg aus der Krise der europäischen Währungsunion nicht klar ausgeschildert? Mit diesem besorgniserregenden Befund suchte der deutsche SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel unlängst Jürgen Habermas auf, mit der Bitte um einen Beitrag für das Regierungsprogramm seiner Partei. Der meist zitierte lebende Philosoph der Welt suchte daraufhin seinerseits Unterstützung beim Philosophen Julian Nida-Rümelin, politisch erprobt im Amt des Staatsministers für Kultur unter Gerhard Schröder, sowie beim Ökonomen Peter Bofinger vom Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Würzburg.

Die Diagnose des Triumvirats hebt damit an, dass jene der deutschen Bundesregierung falsch sei: «Die aktuelle Krise ist keine Eurokrise. Der Euro hat sich als stabile Währung erwiesen. Die aktuelle Krise ist keine europaspezifische Schuldenkrise.» Stattdessen: «Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte eine vom avanciertesten Sektor, den Banken, ausgelöste Krise nur noch in der Weise aufgefangen werden, dass die Regierungen ihre Bürger in der Rolle von Steuerzahlern für den eingetretenen Schaden aufkommen lassen.»

Es kann daher um nicht weniger gehen als darum, «die verlorene Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes auf transnationaler Ebene wiederzugewinnen».

Gewiss ist die EU nicht durch ein Zuviel an wirkungsmächtigen basisdemokratischen Institutionen gesegnet. Und «der Schlachtruf des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes ‹No taxation without representation› » wird auf die offenen Ohren von Steuerzahlern stossen, nachdem sie für Pannenhilfe an ein Land zur Kasse gebeten wurden, dessen Regierung souverän die ganze Welt belogen hat.

Bloss – wer nach allem erwartet welchen Segen ausgerechnet von Politikern? Traue ich einem Parteivorsitzenden mehr als meinem Banker? Ich frage also nach: bei meinem Freund, Ökonomieprofessor und Banker in Zürich, und sieh an, er nimmt sich fünf Minuten Zeit.

Von den Banken ausgelöst? «Im Falle von Irland mag dies ja vielleicht bei einer oberflächlichen Analyse noch hingehen. Im Falle von Griechenland, Italien und Spanien muss man da schon einiges verdrehen, um zu diesem Urteil zu gelangen.»

Offenbar ist es seit dem Crash von Lehman Brothers am 15. September 2008 Gemeingut, dass sämtliche Wirtschaftskrisen nur durch die Banken ausgelöst sein können.

Trotzdem zielt mein Freund in eine andere Richtung:

«Das Grundproblem besteht darin, dass mit viel politischem Gestaltungswillen und dem Euro ein Moloch installiert wurde, der extreme volkswirtschaftliche Ungleichgewichte, enorme Produktivitätsunterschiede zwischen Zentrum und Peripherie geschaffen hat. Die Politik hat hier ein System mit einem Währungskorsett errichtet, das in einzelnen Peripheriestaaten bald die Hälfte aller Jungen in die Arbeitslosigkeit getrieben hat. Hinzu kommt, dass das System vor allem in den peripheren Staaten extrem falsche Anreize geschaffen hat – Zugang zu billiger Verschuldung nämlich.»

Wer es anschaulich will: «Ich war letztes Jahr in Valencia. Dort hat man mit Milliardenkrediten einen Formel-1-Rundkurs angelegt und einen Alinghi-Hafen, ausserdem einen nicht benötigten und nie in Betrieb genommenen neuen Flughafen. Im trockengelegten Flussbett des Rio Turia errichtete man zahlreiche Calatrava- Prestigebauten, alle mit massiven Kostenüberschreitungen, und wahrscheinlich sind Dutzende von Millionen in den Taschen von korrupten Politikern und Baulöwen verschwunden.

In Griechenland und vermutlich auch in Italien ist diese Klientelwirtschaft wohl noch etwas weiter gegangen ...»

Doch warten wir jetzt nicht schon viel zu lange, bis pünktlich die Banken ins Blickfeld geraten?

«Wenn die Finanzmärkte diesen Irrsinn – zugegebenermassen zu spät – nicht mehr finanzieren mögen, hat das weniger mit hochspekulativen Devisenmärkten zu tun als mit einer einfacheren ökonomischen Logik. Beispielsweise hat die Firma Shell, die über enorme Anlagegelder verfügt, vor gut einer Woche bekannt gegeben, dass sie rund 15 Milliarden aus italienischen und anderen europäischen Anleihen in sichere US-Anlagen umschichten will. Grosse Player überdenken ihre Risikoeinschätzungen.»

Mein Freund, den die offenbar noch frischen Erinnerungen an seinen Abstecher ins Flamenco-Land in Fahrt gebracht haben, wird nun fast etwas ungehalten: «Die Politik könnte ja ihre Handlungsfähigkeit wiederherstellen und Wachstumsprogramme für Europas Peripheriestaaten finanzieren, indem sie beispielsweise in Spanien weitere niemals in Betrieb genommene Flughäfen baut ... Aber auf diesem Hintergrund kann ich den Spruch von der verlorenen politischen Handlungsfähigkeit und ihrer Wiedergewinnung einfach nicht mehr hören.»

«Finanzmärkte funktionieren wie andere Märkte sicherlich nicht immer ideal», sagt mein Freund und senkt die Stimme. Doch als Spezialist für Finanzmarktregulierung sieht er das Problem eben im Euro und nicht in den untauglichen Rettungsversuchen.

Er zählt auf die Rettungsfonds und die Europäische Zentralbank, nicht auf Euro-Bonds, die das Problem der falschen Anreize in den Peripheriestaaten nur verschärfen und perpetuieren würden. Eine europäische Vergemeinschaftung der Schulden kann, meint er, nur nach Einführung einer funktionierenden Fiskalunion verantwortet werden – ein Projekt von Jahren, auf das die Rettung des Euro nicht warten kann.

Älteren Datums ist das Sprichwort, wonach schon immer die Gerechten für die Sünder zahlen.