Diktatoren mit Vorbildern

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 02.03.2012

Für gewisse Begegnungen muss man das Haus verlassen. Andere dagegen suchen einen auf und heim, ohne dass man den Fuss vor die Tür setzt. Ohrwurmartig fressen sie sich aus dem Radio und aus dem Fernsehen ins Innere des Schädels ein, in den meinen derzeit Baschar al-Assad, der Name eines 46-jährigen syrischen Augenarztes, der Krieg gegen die Bevölkerung seines Landes führt.

In solchen Fällen bringen eine Abwechslung nur Abstecher, die sich so gut im Haus wie ausserhalb abwickeln lassen. Sie führen in eine andere Zeit, die uns zwar nicht von der Gegenwart erlöst, aber doch den einen oder anderen kleinen Umweg gönnt, ehe wir unweigerlich wieder in ihr aufprallen.

Nein, wir reden jetzt hier nicht vom Imperator und Strassenmusikanten Nero, der in den Jahren 54 bis 68, im Alter von 17 bis 31, über das Römische Reich herrschte und dabei unter anderem dessen Hauptstadt niederbrennen liess.

Wie wäre es mit Kardinal Richelieu (1585–1642), dem «Vater des modernen europäischen Staatensystems», wie ihn der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger bezeichnet hat?

In Paris kämpfte sich eben dieser Richelieu empor zu einem Spitzenpolitiker einer mit sich selber tief zerstrittenen, hochverschuldeten Grossmacht, deren Staatsverwaltung ein umfassender Störfall war, permanent am Rand totaler Lähmung.

Nach der Ermordung des populären Königs Henri IV. fand sich Richelieu als 25-jähriger Spross einer Familie aus dem niedrigen Landadel in den engsten Beraterkreis einer Regentin von brachialem Ehrgeiz aufgenommen: Marie de Médicis, die ihren achtjährigen Sohn und König Louis XIII. zu einem psychisch schwer handicapierten Stotterer erzog. Chefbeamte lebten etwa so gefährlich wie später einst unter Stalin: Erfüllten sie die Erwartungen nicht oder weckten mit zu grossem Einfluss beim Oberhaupt Unbehagen, wurden sie nicht etwa in Pension auf ein Landgut geschickt, ein Privileg, in dessen Genuss einst Männer wie Cicero oder Machiavelli gekommen waren, sondern physisch eliminiert. Bei der Fortbewegung in der Stadt von einem Ort zum anderen, mit Eskorten von zwei- bis dreihundert Mann, riskierten sie auf einen aufgebrachten Mob von zehnfacher Stärke zu stossen. Richelieus Vorgänger, der Premierminister Concini, wurde auf dem Pont Neuf niedergeschossen und von der Menge in Stücke gerissen.

Laut Gerüchten sollen sie auch sein Herz verspeist haben. Richelieu entging demselben Schicksal wiederholt nur knapp, etwa indem er mit seiner Eskorte zeitig genug den Sprechchor «Vive le roi!» anstimmte. Die Hand des Staates mochte eisern sein, aber noch nicht mit heutigen Mitteln und weniger ordentlich.

Richelieus Fortüne brachte der Dreissigjährige Krieg, die letzte grosse Runde in Europas Religionskriegen, die ab 1618 die Kernlande des Kontinents verwüstete. Der aussenpolitische Chefstratege des erzkatholischen Frankreichs witterte seine und die historische Chance seines Landes. An der Seite der protestantischen Mächte zog er gegen die Habsburger Österreichs und Spaniens in den Krieg, stoppte Erstere in Italien und vertrieb Letztere aus Belgien. Er pokerte hoch, und sechs Jahre nach seinem Tod sollte Frankreich 1648 als die stärkste aller Mächte aus dem Krieg hervorgehen – aus einem «grossen vaterländischen Krieg», in den Frankreich nicht irgendwelche defensive Motive, sondern der französische Drang zur Grösse, verkörpert in Richelieu, getrieben hatte.

In der Zwischenzeit hatten die Steuerlasten der von Kardinal Richelieu während einer Zeit von über 20 Jahren zusammengetrommelten Armeen das eigene Land und seine Bauernschaft in einem Masse ausgeblutet, dass die Provinz von Hungersnöten und eigentlichen Bürgerkriegswirren heimgesucht wurde.

Der Westfälische Friede von 1648 gilt als die Geburtsstunde des modernen europäischen Staatensystems. Aber noch folgten auf dessen Territorien – und weit darüber hinaus – drei Jahrhunderte Kriege, von Europäern initiiert.

Frankreichs absolutistische Monarchie und ihre Verwaltungsbürokratie brauchten ein bis zwei weitere Menschenalter, um den französischen Zentralstaat in seinen modernen Grenzen zu festigen.

Auf solche Vorbilder, mit allem was dazugehört, berufen sich noch heute Potentaten anderer Weltgegenden, von Libyen über den Vorderen Orient nach Zentralasien und bis in Wladimir Putins Kreml. Sie sehen sich als Schlüsselakteure weltpolitischen Geschehens und beschwören höhere Prioritäten als demokratische Volksherrschaft im freiheitlichen Rechtsstaat. Sie sind junge Nationen und blicken auf grosse Kriege zurück, die weniger weit zurückliegen als unsere, wie zum Beispiel Iran: eine Million Tote im Krieg der Achtzigerjahre gegen den Irak und horizontfüllende Märtyrerfriedhöfe.

Das syrische Regime ist eine Blutherrschaft von seltener Grausamkeit. Die Frage, wie lange es sich halten kann und was danach kommen wird, verlockt kaum jemanden, darüber Wetten abzuschliessen. Die grosse Geschichte hält derweil zumindest eine Lektion bereit: dass in einem solchen Fall Interventionen aller Art, humanitäre ausgenommen, höchst problematisch sind, vor allem wenn man sie Nachbarn wie den arabischen oder etwa der Türkei empfehlen wollte.

Das widerwärtige Spiel des Kreml allerdings und Assads Verbündeter in Teheran, wo man einen Spezi nicht verlieren will, solange dafür kein Ersatz in Sicht ist, wird dadurch nicht schöner.