Die tapferen Unnaiven

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 14.10.2011

Kürzlich traf ich wieder einmal T. Und tatsächlich bat mich T. um Rat. Es ging um einen seiner Angestellten, der ihn nicht zufrieden stellte, und ob ich ihm nicht vielleicht einen besseren wüsste. Aber obwohl er höflich fragte, traf T. mich nicht in Stimmung, auf sein Begehren – oder war es doch bloss eine Bitte? – einzugehen. Erstens war ich mit eigenen Dingen beschäftigt, und zweitens war mir nicht ganz klar, wen es da vor wem zu schützen galt. Denn T. ist mir sonst mehr als einer von jenen vertraut, die um Rat nur fragen, um sofort mit 57 Einwänden zu kontern, weshalb die Empfehlung keinesfalls gut genug sein kann, bei Weitem nicht, und selbst der Bestgewillte damit an der nächsten Strassenecke scheitern muss, weil er nämlich gar nicht anders kann. Ich ging meiner Wege und fühlte mich dennoch von T. verfolgt, bis ich Ihnen, liebe Leser, mein Herz ausschüttete. T. weckte unangenehme Erinnerungen, nicht nur jene an ihn selber. Gewiss – das Beste hoffen darf nur, wer auch das Schlimmste zu befürchten versteht. Jede andere Haltung lässt den Ernst vermissen, den die wichtige Frage doch verlangt; so weit haben T. und ich kaum Differenzen. Aber da gibt es die Hochleistungsschwarzseher, die es stets offenen Auges kommen sehen und mit ihrem unverdrossenen Negativismus nur Recht behalten können. Andernfalls, bei erfreulicherem Verlauf des Kommenden, ist alles auch schon flugs und spurlos im Orkus der Vergessenheit verschwunden. Seien wir gemeinsam froh, und die Tagesordnung bleibt die alte.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich diese wohlfeile Altklugheit unter politischen Kommentatoren und Propheten, von Beruf oft Diplomaten oder Journalisten. Zum Beispiel stürzt nach einigen Jahrzehnten landesweiten Terrors ein Despot wie weiland der Zairer Mobutu Sese Seko, und sofort ist ein neunmalkluger Afrikaexperte mit seinem Bescheid zur Stelle, ab heute könne an Kongo alles nur noch einmal viel schlimmer werden. Dito jüngstens wieder mit Gaddhafis Libyen oder mit Ägypten und so weiter. Haben es uns nicht unlängst die Iraker schauerlich genug vorgeführt? Wer wartet da auf weitere Beweise? Können nicht auch Tyrannen unentbehrlich sein? Wie vielleicht Siad Barre, dessen Sturz Somalia in nicht mehr endendem Chaos versinken liess?

Der anarchische Gewaltrausch, den die Despotie angeblich unterdrücken sollte, ist allerdings nur deren Resultat und deshalb keine Rechtfertigung. Doch eine solche Einsicht bringt unsere entschlossenen Auguren nicht aus dem Konzept.

Dabei ist es ja nicht so, dass diese pausenlos das Schlimmste und nur es wünschen, weder sich selber noch auch nur der übrigen Welt. Doch handkehrum sind sie dann doch zu fantasielos, um sich eine andere ihr Temperament zufriedenstellende Dramatik einfallen zu lassen als die des GAU, des worst case. Wie August Strindberg zu ihnen anmerkte: «Manchmal, wenn es sehr gut geht, benutzen sie den Ausdruck ‹Lieber Gott!›. Bei Rückschlägen glauben sie an böse Mächte, verstehen es aber nicht, beim lieben Gott Hilfe zu suchen.»

Bei uns in Kenia lebte ich vor drei Jahren einmal für kurze Zeit im Gefühl, den Sog des Abgrunds am eigenen Leib zu spüren. Da gab es nach einer strittig ausgegangenen Präsidentenwahl blutigen Zwist, und in einem Zeitraum von drei Monaten kamen in diesem Land der Grösse Frankreichs durch politische Gewalt 1500 Menschen ums Leben.

«Schlacht um Nairobi» titelte «Die Zeit» in Hamburg, sonst hin und wieder ein seriöseres Blatt, als sich in Kenias Hauptstadt Demonstranten und Polizisten prügelten. Rund um die Welt gingen durch die Medien irre Vergleiche mit dem Völkermord in Rwanda von 1994, wo während drei Monaten im Tagesdurchschnitt 10 000 Menschen hingeschlachtet wurden.

Zu allem hin war ich ein Ausländer, der eine Liegenschaft erworben hatte und da mit seiner Familie lebte. Wenn ich in dieser Lage von etwas anderem als dem Allerschlimmsten ausging, konnte das mit letzter Sicherheit nur die reinste Augenwischerei sein und ich ein Volltrottel. Was, du glaubst an so etwas wie die Vermittlungsmission eines pensionierten UNO-Generalsekretärs wie Kofi Annan??! Kein Mensch in diesem Land wird je ein Friedensabkommen unterzeichnen!!

Ich persönlich kam nie in die Nähe eines Opfers der Gewalt. Aber pünktlich fing ich an, mich an Einheimische zu halten und den Kontakt mit auswärtigen Berufskollegen zu meiden, mindestens soweit sie nicht mit angenehmen Erscheinungen wie Touristen und Badestränden beschäftigt waren und diese der Welt erhalten wollten. So weit es um die Politik und ihre unübersehbaren Scheusslichkeiten ging, hatte der Konformitätsdruck der Schwarzseher, der Aufenthalt in diesem missgestimmten, dröhnenden Chor der Unnaiven, etwas Überwältigendes, Lähmendes, verleidete mir den Beruf. Der bedauernswerte Kerl nämlich, der die Schwarzseherei nicht in jeder Lage zu seiner Königsdisziplin erhöhen mag, sich dann aber prompt von einem enttäuschenden Verlauf auf dem falschen Bein erwischen lässt, wird sich vom Brandmal seiner Naivität kaum nochmals erholen. Wer also wäre da nicht lieber auf der sicheren Seite und sähe unfehlbar schwarz? Die Angelsachsen haben das geflügelte Wort: «When I’m right, no one remembers; when I’m wrong, no one forgets.» Ausser es kommt doch besser, als wir dachten und womöglich sogar fürchten mussten. Vom Risiko jedenfalls, doch einmal von einer positiven Überraschung ereilt zu werden, lässt einer wie T. sich nicht schrecken. Einem Arbeitnehmer aber empfehle ich ihn nicht als Boss.