Niemals dumm genug

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 19.08.2011

Es war meine Ehefrau B., die mir am Frühstückstisch die Frage stellte. Ich muss, so die einzige inhaltliche Richtlinie, die mir der Redaktor F. T. für diese Carte Blanche vorgab, jedesmal von einem Individuum ausgehen und von diesem zu höheren Ebenen der Betrachtung aufsteigen. Was von Politikern zu halten sei, so und nicht knapper lautete die Frage der Kenianerin B. Wie ich vermute, war die Frage diesmal weniger von Mubarak und Gaddhafi inspiriert als von der protestebelebten europäischen Strasse von Athen über Madrid bis zum Londoner Stadtteil Tottenham. Bei Politikern aber von einem Individuum auszugehen, wäre nicht einfach, denn wer schon könnte diese Allrounderspezies griffig verkörpern?

In manchem Fall sind sie Anwälte, und was diese betrifft, hielt das Londoner Wochenmagazin «The Economist» wenigstens einen Witz für mitteilenswert: 300 Anwälte bis zum Hals im Sand, was ist das? – Das ist nicht genug Sand. Hier in Nairobi münzte ich das kürzlich auf die kenianischen Politiker um und stellte die Frage meinem Mieter G. S., Besitzer und CEO eines kommerziellen Privatradios, das er auf unserem Anwesen betreibt. Wie? Nicht genug Sand? Ach, Sie meinen, wir brauchen schon wieder verständnisvolle Geber...

Bei B.s Frage erscheint auf Anhieb eine gewisse Ratlosigkeit. Mir fällt dazu nichts ein, ausser dass ich unsere Politiker fast ebenso wenig beneide, wie ich sie bedaure (was etwas heissen will). Also gab ich, was ich in solchen Fällen gern tue, die Frage weiter.

Schuster, bleib bei deinem Leisten, sagte der Ökonom und Banker N. S., der sich nur an die Politiker wenden mag, sobald er und seinesgleichen versagen, und auch dann nur, um sein Versagen ihnen zur Last zu legen. Psychologen fragte ich nicht, denn sonst hätte ich von ihnen schreiben müssen. Aber einen Entwicklungsexperten (und selber Politiker) fragte ich, und zwar keinen anderen als Q. O. Vor Jahren hatte der einmal geseufzt, als Politiker erreiche jeder anständige Berufsmann sein tiefstes beziehungsweise das höchste Niveau der für ihn erreichbaren Dummheit.

Sprach Q. O. von unserem Milizsystem? Sind dessen Akteure nicht oft als Berufsleute durch ein Profil bekannt, gegen welches sie als Volksvertreter, umgeben von Verwaltungsprofis und -experten, die zudem von Wahlkampfrücksichten ganz frei sind, erbärmlich abfallen? Den Administratoren, ja, sogar den Magistraten dürfen die Obliegenheiten politischer Repräsentanten ganz fremd sein. Die gestandenen Akrobaten zwischen und über den institutionellen Lücken brauchen nicht einmal Demokraten zu sein. Oder meinte Q. O. auch professionelle Parlamentarier wie die im grossen Kanton, die gleich zweierlei vor Augen führen? Nämlich dass erstens Zehnkämpfer gewöhnlich keine Spitzenhochspringer sind und dass zweitens der Vergleich zwischen Sport und Politik hinkt, weil in deren Arena nur selten so vollendete Athleten zu bewundern sind wie die im Stadion?

Immerhin gab er mir ein Stichwort: Dummheit – immer aktuell und zugleich meist unzureichend begriffen, wenn nicht ganz missverstanden. Ist es nicht ratsam, bevor wir mit leichtfertigen Handreichungen auf die Politiker zugehen, wenigstens eine Vorüberlegung anzustellen zu dieser menschlichsten aller Qualifikationen, der Dummheit eben?

Sie ist wohl von ungleich grösserem destruktivem Potenzial als die absichtsvolle Bösartigkeit einer komplett versammelten mittleren Wohlstandsgesellschaft.

Diesmal also nur ein Lexikoneintrag. Dummheit: das Gegenteil der Klugheit, welche dem griechischen Philosophen Aristoteles zufolge als einzige Tugend nicht im Übermass auftreten kann. Leider ist deren Gegenteil D. nicht nur die Absenz der Klugheit, sondern deren Gegenteil gleich in mehrfacher Hinsicht. Naiv und eine sträfliche Verharmlosung ist die Vorstellung, bei der D. handle es sich nur um einen passiv in Erscheinung tretenden Mangel, eine Schwäche erst auf der Seite des Aufnahmevermögens und in der Folge auch des Denkvermögens. Die D. kommt erst recht in den Blick, wenn sie in Aktion tritt, wenn sie ihre unwiderruflichen Leistungen aneinanderfügt, diese nicht nur addiert, sondern multipliziert, potenziert. Sie ist dabei weit verlässlicher, versagt weit weniger häufig als die Klugheit. An der alten Tugend der Klugheit, von Zeitgenossen gerne Intelligenz genannt, fällt zudem immer wieder auf, mit Erschrecken zuweilen, dass sie nicht von sich aus in Aktion tritt, sondern auf das Zusammenwirken mit anderen Tugenden angewiesen bleibt und ohne diese völlig aufgeschmissen ist. Ganz anders die D. Sie ist weit weniger von anderen Gaben abhängig und macht jederzeit spontan und in eigener Regie von sich Gebrauch. Beim Individuum als Invalidität stigmatisiert, wird sie im Orchesteraufzug samt Solisten hochgejubelt. Oder sie macht sich, wie Brecht sagte, unsichtbar, indem sie sehr grosse Ausmasse annimmt. In der Schweiz brauchen wir bloss an Debatten etwa um die AKW zu denken und um deren Sicherheit, die es weder gibt noch geben kann, und unter unser aller Augen ergeht die D. sich in Exzessen, die ein landläufiges Wort wie «dumm» hilflos, ja fast etwas dümmlich klingen lassen, bei Weitem jedenfalls nicht genug dumm.

Und dann war da die Frage meiner Ehefrau B., zu der mir am Frühstückstisch nur ein Brief von Raymond Chandler einfiel: «Marlowe kümmert es einen Dreck, wer zum Präsidenten gewählt wird, und ich fühle ganz ähnlich», so die Anleihe des Krimiautors bei seinem unsterblichen Detektiv, «denn er weiss, es wird ein Politiker sein.»