In der Polygamiefalle

Kolumne in der «Basler Zeitung», 24.06.2011

«Georg, ich könnte hier nicht treu leben. Wie kannst du das?» Es geht gegen Mitternacht, und wir stehen auf der Terrasse eines berühmten Nightclubs in Nairobi. F. T., der Schweizer Reporterkollege, ist vor einigen Stunden heil aus Mogadischu zurückgekehrt, und jetzt wollte er sich einige Schlücke dieser kühlen Abendbrise auf 1800 Meter über Meer genehmigen. Doch das schwere Parfum der schönen 23-Jährigen an seinem Arm, die ihn im Augenblick gegen andere Behelligungen abschirmt, mehr eine Art Bodyguard also, benebelt sogar hier draussen an der frischen Luft. Nairobi ist die Hauptstadt Kenias, eines dieser Länder, von denen der Volksmund will, dass sie vom einen bis zum anderen Ende grosse Hurenhäuser seien.

Die Länder dieser Klasse, zu der auch Thailand, Marokko und Brasilien zählen, haben gewisse, dem ältesten Gewerbe förderliche Merkmale gemeinsam. Nirgendwo handelt es sich um eine Veranstaltung, die bloss eine auswärtige Nachfrage bedienen würde. Eine bedeutende Tourismusindustrie gehört zum Bild, lastet aber nur Luxussegmente von viel weiter gespannten Freudenmärkten aus. Für deren Umsatz sorgen hausgemachte enorme Einkommensgefälle, als Bedingung sowohl der Nachfrage und Kaufkraft als auch des grossenteils durch nackte Not mobilisierten Angebots. Damit einher geht eine umfangreiche landesinterne Arbeitsmigration.

In Kenia deponiert ein grosser Teil der Männer die Familie mehr oder weniger gezwungenermassen auf einem Stück ererbten Landes im Dorf und sucht einen Erwerb in der Stadt oder an den Badestränden - wie viele junge, unverheiratete Frauen auch. Wo aber Eheleute in grosser Zahl nicht beieinander wohnen, da sagen die Männer rasch, wie ich es vor bald 30 Jahren erstmals in Marokko hörte: «In diesem Land sind alle Frauen Huren!» Sie sagen es zur eigenen Entlastung. In Kenia hat die Suaheli-Sprache das Wort malaya: in schlichter Fairness steht es für beide, die Hure und den Kunden.

Aber F. T., der Kollege aus der Schweiz, hat eine andere Frage gestellt, und neugierig darauf, ob er sich die Angelegenheit zu Ende überlegt hat, stellen wir ihm ein paar Schritte in seine Untreue nach. Von hier leben hat er gesprochen, und falls er die Dame seiner sündigen Wahl nicht nur einmal treffen will, geht er mit ihr - wenn nicht zuerst, so doch demnächst - in eines der vielen Labors. Sie verkaufen nicht nur Resultate, sondern machen auch tatsächlich Tests, wenn man will. Negative Ergebnisse für HIV, Hepatitis C und Syphilis sind doch etwas. Allerdings schützen sie nicht vor einem Rachentripper und ebenso wenig vor einer Tuberkulose mit Ostafrikas weitgehend antibiotikaresistenten Mykobakterienstämmen. F. T. wird sich also auf allerhand Einschränkungen gefasst machen müssen, solange er nicht wie die Showgirls in den Cabarets von Pattaya auch die Zunge in ein Kondom packen mag. Schliesslich sprach er von Untreue, und weil von dieser nicht nur die untreuen Personen selber betroffen sind, ist deren oberstes Gebot Sicherheit, solange F. T. nicht gemeingefährlich werden möchte. Sodann aber, ja eben, falls es denn soweit kommt: wohin? Würde F. T. in Nairobi leben, dann wohl mit seiner Ehefrau, und dieses Opfer seiner Untreue wäre, so dürfen wir einmal annehmen, eine Kenianerin und von klein auf hier zu Hause.

Diese nächtliche Dreieinhalbmillionenstadt ist, obschon ein grosses, mit Haut und Haar ein Dorf. Seine Frau, von deren ehemaligen Klassenkameradinnen auch nach 40 noch einige im Nachtclub sind (und wäre es als Ehefrau des Wirts), wüsste in jedem einzelnen Augenblick Bescheid, und zwar noch vor F. T. selber, wo dieser sich gerade aufhält. Wir leben im Zeitalter des Mobiltelefons. Auch das Hotel zum Sündigen könnte er kaum betreten, geschweige denn es hinterher nochmals verlassen, auch nicht durch den Lieferanteneingang. Es gäbe also nur zwei Möglichkeiten: Entweder er könnte sich seine Untreue daheim bewilligen lassen, hierzulande ein eher aussergewöhnliches Arrangement; oder aber der Preis dafür wäre ein häusliches Zerwürfnis, hierzulande leider ein weniger seltenes Malaise.

In Afrika macht man sich in diesem Punkt nichts vor: Nur ein einziger Sexualpartner ein Leben lang, das ist doch eher die Ausnahme als die Regel. Das christliche Monogamiegebot, das kommt auf dem Kontinent der allgegenwärtigen Knappheit hinzu, wird zudem traditionell durch den biologischen Umstand eingeschränkt, dass die Zeugungsfähigkeit des Mannes die Gebärfähigkeit der Ehefrau um Jahrzehnte überdauert. Da sein Samen nicht vergeudet sein darf, autorisiert ihr Klimakterium den Gatten zur Umschau nach einer Zweitfrau.

Aber niemand ist so töricht anzunehmen, deshalb wären die universellen Paradoxien von Treue und Untreue in Afrika entschärft. Seine zweite Liebe, sei es bloss eine Affäre oder rechtens eine Zweitfrau, empfindet ihrem Wildbeuter gegenüber nur in selten Fällen das zum glücklichen Leben unentbehrliche Mass an Dankbarkeit. Sie fühlt sich nicht ganz recht in Ehepflichten, zahlt ihm seine hochgemute Untreue mit gleicher Münze heim, oder im milden Fall schafft sich ihre Frustration Ausdruck durch Verweigerung.

Seine erste Frau lächelt über den grossen Knaben mit der jungen Frau in der Polygamiefalle. In den vergangenen 20 Jahren habe ich bei zwei meiner männlichen Angestellten in Nairobi dasselbe Schicksal beobachten dürfen. Es ist nicht in jedem Fall der kostengünstigste, aber immerhin der sicherste Weg: Wer bald ganz ohne Sex leben will, hat mehrere Ehefrauen.